Was ich lese. Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat – Pierre Bayard.

Was ich lese

Ein berühmter Dirigent erzählte mir eine wahre Begebenheit: In einem seiner Konzerte schlief, vernehmlich schnarchend, ein Kritiker ein. Weckversuche der Ehefrau – vergeblich. Tags darauf erschien, vom Schläfer verfasst, eine vernichtende Kritik. Der Dirigent forderte eine Entgegnung. Entrüstung! Niemals! Der bloße Gedanke trieb dem Zeitungsherausgeber Schweiß auf die Stirn. Die „Kritik des ungehörten Konzerts“ lasen nun eifrig Zeitungsleser, die entweder im Konzert waren oder nicht; sprachen mit Menschen darüber, welche die Kritik überflogen hatten, vom Hörensagen oder gar nicht kannten, auf jeden Fall überhaupt nicht im Konzert waren. Alle bildeten sich ein treffendes Urteil.
Der französische Literaturprofessor Pierre Bayard beschreibt in seinem Bestseller „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ – am Beispiel der Literatur und mit amüsanten Beispielen aus dieser – raffiniert unterhaltsam das uns allen vertraute, aber nicht immer bewusste soziokulturelle Phänomen: wie Leser und Kritiker (Laien und Experten), in bemerkenswerter Kooperation das wirkliche Kunstwerk durch eine Schein-Wirklichkeit ersetzen, die mit dem Eigentlichen nur am Rande zu tun hat. Beim Lesen kommt leider erschwerend hinzu: das Vergessen. Kaum zu Ende gelesen, ist das Buch schon dem Prozess des Vergessens anheim gefallen. Konsequenterweise gibt es für Bayard kein gelesenes Buch. Was Leser so bereden und so treffend beurteilen, ist: unbekannt, quergelesen, von anderen erwähnt, bestenfalls vergessen, notfalls erfunden. Das Gesellschaftsspiel des Nichtlesens funktioniert perfekt. Solange alle mitspielen. Und niemand das Nichtgelesenhaben zugibt.
Ich – hab‘s gelesen! Und bewerte es auf der Original Bayard-Skala mit: VB, ++. (Sie müssen übrigens nur die „Tabelle der Abkürzungen“ querlesen, um mitreden zu können.)

Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Goldmann TB 2009