Und wenn Mitternacht ist, kommt ein Teufel daher!

An den Ufern des Mississippi, in Amerikas tiefstem Süden, hecken sie ihre Streiche aus: Tom Sawyer, der Waisenbub, und der gleichaltrige Landstreicher Huckleberry Finn. Beneidenswerte Abenteuerlust bringt die beiden in so manch gefährliche Lage, und nebenbei erlebt Tom seine erste große Liebe. Doch dann muss Huck vor seinem gewalttätigen Vater fliehen. Mit dem entlaufenen Sklaven Jim begibt er sich auf eine waghalsige Floßfahrt den Mississippi hinunter. Ein neues Abenteuer beginnt.
Natürlich schuf Mark Twain (1835-1910) die spannenden, tragisch-komischen Geschichten für Kinder, jedoch, so schreibt er im Vorwort, wollte er auch die Erwachsenen freundlich daran erinnern, wie sie einst selbst gewesen, was sie fühlten, dachten und sprachen und in welche sonderbaren Unternehmungen sie manchmal verwickelt gewesen sind. Der erste Erwachsene, bei dem ihm dies glückt, ist: er selbst. Sein erster Roman, Tom Sawyer, führt ihn tief in seine Kindheit zurück – schnurstracks zum zweiten, Huckleberry Finn. Er kippt so vollkommen in die Geschichte, dass er anfängt das zweite Buch zu schreiben, noch ehe das erste (1876) erschienen ist.
„Man muss immer den Huckleberry Finn dazunehmen, er ist die großartigste Erfindung von Mark Twain; wenn der fehlen würde, in diesem Doppelroman – das wäre nicht dasselbe.“
Sagt nun ein zweiter Erwachsener, ein ganz anderer Schriftsteller: Michael Köhlmeier. Mark Twain führt ihn doppelt in seine Kindheit. Erstens überhaupt und zweitens:
„Tom Sawyer war das erste Buch, das ich gelesen hab. Und der Huckleberry Finn das zweite. Woraus man ersehen kann, dass ich es gleich anschließend gelesen hab, wobei, das stimmt nicht ganz. Zuerst hab ich einmal den Tom Sawyer fünfmal hintereinander gelesen, in der Schleife, also nachdem ich fertig war, hab ich ihn von vorne angefangen.“
Damals wusste Michael Köhlmeier nicht, warum – oder doch, irgendwie.
„Tom und Huck sind Repräsentanten einer ganzen Welt, nämlich von Amerika. Das merkt man auch als Kind. Man spürt, die stehen für mehr als einfach nur zwei Lausbuben. Hinter denen verbirgt sich die Haltung der ganzen Gesellschaft, irgendwie. Die beiden sind amerikanische Grundcharaktere, bis heute. Dem Tom traut man ohne weiteres zu, dass er eines Tages Präsident wird, dem Huck nicht.“
Davon hat Tom selbst allerdings keine Ahnung, wenn er mit seinem Freund Joe Harper Szenen aus Robin Hood nachspielt.
Die beiden Jungen zogen sich wieder an, versteckten ihre Ausrüstung und gingen davon, und sie klagten, dass es keine Rechtlosen mehr gab, und fragten, was denn die moderne Zivilisation getan hatte, um diesen Verlust wettzumachen. Sie meinten, lieber ein Jahr lang Rechtlose im Sherwood Forest sein zu wollen, als Präsident der Vereinigten Staaten zu werden.
„Huck Finn entspricht dem Outlaw, der nicht einfach der Böse ist, sondern einer, der an der Gesellschaft nicht teilnehmen will oder kann oder den man nicht lässt – Mark Twain hat ihn erstmals zum Gegenstand der Literatur gemacht.“
Dann traf Tom auf Huckleberry Finn, den jugendlichen Paria des Ortes, Sohn des stadtbekannten Säufers. Huckleberry wurde von allen Müttern von St. Petersburg aus tiefstem Herzen gehasst und gefürchtet, weil er faul, frech, vulgär und ungehobelt war – und weil alle Kinder ihn so bewunderten und sich gern in seiner Gesellschaft befanden – was verboten war – und sich wünschten, den Mut zu haben, auch so zu sein wie er.
Von Huck Finn ist auch die Musik inspiriert, die Michael Köhlmeier als Begleitung für sein literarisches Erzählen ausgesucht hat.
„Warum ich das mit dem Hans Theessink mache – er ist zwar kein Amerikaner, aber er hat sehr lange drüben gelebt. Er hat mit wirklichen Blues-Größen gespielt, er ist mit dem Blues sehr vertraut. Der Blues wiederum, obwohl er von den Schwarzen kommt, ist die Musik des Huck Finn.“
Bleibt die ewige Frage, ob es sich hier nun um rassistische oder antirassistische Romane handelt.
„Es ist eine differenzierte Bestandsaufnahme von Rassismus und es sind auch antirassistische Romane, durch den Huck Finn: Der ist so sehr Außenseiter, dass ihm Rassismus gegen einen Schwarzen nichts bringt. Auf der Ebene des Tom gibt es Gleichere und weniger Gleiche. Huck ist auf der puren menschlichen Ebene, wo wirklich alle gleich sind. Wenn er mit dem Jim flieht, da gibt‘s keinen Unterschied zwischen schwarz und weiß. Da sind sie beide Vertreter des dunklen Amerika. Mark Twain war Rassist, aber nicht gegenüber Schwarzen. Sondern gegenüber Indianern. Die Ureinwohner, die hat er gehasst. Und die negativste Figur aus beiden Romanen ist der Indianer-Joe. Zugleich ist er die faszinierendste Figur.“
Hör mal, Huck, ich kenne eine von den anderen Stimmen (flüstert Tom, in der gruseligen Szene auf dem Friedhof), das ist der Indianer-Joe. Stimmt… (antwortet Huck) das mordgierige Halbblut! Teufel wären mir lieber, bei weitem.
„Wie Mark Twain als Mensch war, ist mir wurscht, im Prinzip, als Autor hat er ein sehr gutes Spiegelbild gebracht. Tom und Huck gemeinsam repräsentieren Amerika – die Eingeborenen nicht mehr. Sie sind Außerirdische, Eingewanderte, Fremde im eigenen Land. In der Figur des Indianer-Joe sind sie perfekt eingefangen. Er steht allein einer ihm völlig fremden Welt gegenüber, die ihn ihrerseits als völlig Fremden versteht. Wie er stirbt, wissen Sie ja.“
Als die Höhlentür geöffnet worden war, bot sich ihnen im Dämmerlicht des Ortes ein grausiger Anblick. Indianer-Joe lag ausgestreckt auf dem Boden, tot, das Gesicht eng an den Türspalt gepresst, so als sei sein sehnsüchtiger Blick bis zum letzten Augenblick in der Vorfreude auf die freie Welt, auf die Helligkeit draußen gerichtet gewesen.
„Unglaublich, das Bild, das Mark Twain da schafft, dass Indianer-Joe in dieser labyrinthischen Ausweglosigkeit der Höhle verhungert und verdurstet.“
Ein bisschen amerikanische Geschichte zu kennen schadet jedenfalls nicht, wenn man Tom Sawyer und Huckleberry Finn liest.
„Mark Twain hat seine Kindheit und Jugend beschrieben, die vor dem Bürgerkrieg war. Gleichzeitig sind die Typen, die vorkommen, vom Bürgerkrieg geprägt – es sind also zwei Zeiten gemischt. Zum Beispiel schafft Mark Twain einen Prototypen, den findet man bis zu Walt Disney: das elternlose Kind. Tom hat keine Eltern. Er wächst bei seiner Tante Polly auf. Wie es auch bei Walt Disney nur Onkeln und Tanten gibt. Das hat seinen Grund in der kollektiven Erinnerung an den Bürgerkrieg. Heere von elternlosen Kindern sind da vollkommen irr durch die Gegend gezogen. Huck Finn hat zwar einen Vater, aber der ist Alkoholiker – warum ist er so gescheitert? Er ist eine ganz typische Figur nach dem Bürgerkrieg, wie es sie nach jedem Krieg gibt: Er findet nicht mehr zurück.“
Ganz typisch für den Süden Amerikas sei auch dieses Ritualisieren von Ungemach, meint Michael Köhlmeier, wo der Tod mit eingerechnet ist, bis hin zur Warze. Wenn die Rituale nicht eingehalten werden, geht alles schief.
Na, du nimmst eine tote Katze und gehst um Mitternacht auf den Friedhof, wenn sie jemanden, der ganz übel war, eingegraben haben. Und wenn Mitternacht ist, kommt ein Teufel daher, oder vielleicht auch zwei oder drei, aber die kannst du nicht sehen, nur hören, ein bisschen wie der Wind. Wenn die sich den Kerl holen, schmeißt du die Katze nach und sagst: ‘Teufel, folg der Leiche, Katze, folg dem Teufel, Warzen, folgt der Katze, ich hab genug von euch!‘ Das schafft jede Warze.
Sind Sie abergläubisch, Herr Köhlmeier?
Nein! Um Himmels willen!
Doch noch etwas, sagt er, sei gut zu wissen, wenn man Literatur liest, die im Land von „Vom Winde verweht“ spielt: wie groß der Einfluss des schottischen Dichters Sir Walter Scott (1771-1832) gewesen sei.
„Mark Twain hat gesagt, man sollte den Süden Walter-Scott-Land nennen. Die Vorstellung von Heldentum, Rittern, Befreiung von Gefangenen – ist alles aus seinen Romanen. Die hatten dort eine unglaubliche Verbreitung. Und sie haben die Ideologie der Menschen, die lesen und schreiben konnten, dermaßen geprägt, das kann man sich gar nicht vorstellen. Die Großgrundbesitzer haben sich als neue Aristokratie im gelobten Land gesehen. Die wollten ein ideales Bild aristokratischen Lebens nachformen. Es ist wunderbar, wie diese Gesellschaft dargestellt wird.“
In Huckleberry Finn lässt Mark Twain den Helden selbst erzählen – im tiefsten Dialekt! Das ist revolutionär. Für nicht englischsprachige Leser allerdings ein Riesenproblem. Dialekt entwickelt sich ebenso rasant wie seine Übersetzung veraltet und ist vor allem: immer an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Gesellschaftsschicht gebunden. Wie, Herr Köhlmeier, sehen Sie das mit der Übersetzung? Wahrscheinlich müsse man, meint er, einen künstlichen Dialekt erfinden, denn einen bestimmten könne man nicht nehmen – aber wie würden denn Sie das machen? Ich, sage ich, würde das Buch in keinem Dialekt übersetzen. Oder überhaupt nicht. Denn ein künstlicher Dialekt (in so einem ist jüngst eine Neuübersetzung von Huckleberry Finn erschienen) macht genau das nicht, was Ursprung von Dialekt ist und ihm literarisch Sinn verleiht, nämlich Figuren eine soziale und geografische Identität zu geben, und wird damit Selbstzweck.
You don't know about me, without you have read a book by the name of 'The Adventures of Tom Sawyer,' but that ain't no matter.
 So beginnt Huckleberry Finn seine ureigenste Geschichte zu schreiben. Übersetzen kann man sie nicht, nur neu erzählen. Und wer wäre dazu berufen, wenn nicht Michael Köhlmeier.
„Hauptsächlich werde ich erzählen, wenig lesen, ich bin ja kein Vortragender.“