Ist es wahr? Mendelssohns Streichquartette op. 12 und op. 13


Ist es wahr?

 

Über Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Streichquartette 

Nr. 1 in Es-Dur op. 12 und Nr. 2 in a-Moll op. 13 

 

Ist es wahr, dass Felix alle seine Streichquartette für Frauen komponiert, die er liebt? Inspiriert durch die tiefen und verschiedenartigen Gefühle, die sie in ihm auslösen.

Sein letztes Streichquartett (Nr. 6 op. 80), schreibt Felix (38) im September 1847, zwei Monate vor seinem Tod, in f-Moll, Tonart höchsten Schmerzes, im Gedenken an die größte Liebe seines Lebens, die ihm plötzlich der Tod entrissen hat: seine Schwester Fanny (42). 

Die mittleren Quartette (Nr. 3, 4 und 5 op. 44) komponiert er zehn Jahre früher für eine junge Frau (19), die er (27) kennen und lieben lernt und schließlich heiratet: Cécile – wie Cäcilie, Fannys zweiter Vorname. 

Seine ersten Streichquartette jedoch, Nr. 1 op. 12 und Nr. 2 op. 13, schreibt er für: Betty. Friederica Dorothea Elisabeth Pistor, Tochter eines Erfinders von Instrumenten, mit denen man Sterne beobachten kann. Die Familien Pistor und Mendelssohn sind Nachbarn, in der Leipziger Straße 3 in Berlin, und Betty (19) ist die Freundin von Felix‘ Schwester Rebecka (16). Sie ist sehr musikalisch und singt in Carl Friedrich Zelters Berliner Singakademie. Hier begegnet Felix (18) ihr im Frühjahr 1827 erstmals bei einer Probe. Wahr ist zweifellos, dass er daraufhin ein Liebeslied komponiert: Ist es wahr? Zu dem er selbst das Gedicht verfasst hat. Obwohl im Erstdruck „H.Voss steht. Doch dahinter verbirgt sich weder Johann Heinrich Voss noch Johann Droysen, dem man den Text andichtet, sondern der verliebte Komponist selbst. „Weil ich doch einmal nicht anders Ruhe habe, so schreibe ich Dir das Lied, das Thema des Quartettes gleich hieher; es hat nur einen Vers, es ist ein Impromptu ganz so wie es da ist, auf einer Landpartie zum Pfingsten voriges Jahr mit Text und Musik dahingeschrieben. Das Quartett ist später gemacht.“ Schreibt Felix Anfang Februar 1828 an seinen schwedischen Komponisten-Freund Adolf Lindblad. 

 

Ist es wahr? Ist es wahr?

Dass du stets dort in dem Laubgang

An der Weinwand meiner harrst?

Und den Mondschein und die Sternlein

Auch nach mir befragst?

Ist es wahr? Sprich!

Was ich fühle, das begreift nur,

Die es mit fühlt,

Und die treu mir ewig,

Treu mir ewig, ewig bleibt.

 

Betty fühlt nicht mit Felix und kann ihm nicht treu werden. Sie ist ihm herzlich zugetan, bewundert sein musikalisches Genie – doch verliebt ist sie nicht. Am Ende wird sie den fünf Jahre älteren Juristen Adolf Rudorff heiraten. Die Liebe des knapp ein Jahr jüngeren Felix nimmt sie nicht einmal wahr. Zumindest erzählt sie das ihrem Sohn Ernst, der in seinen Lebenserinnerungen schreibt: Ihr sei nicht einmal klar gewesen, dass Felix ihr eines seiner schönsten Werke gewidmet habe, das Streichquartett op. 12 in Es-Dur. Wo es doch im ganzen Freundeskreis gutmütig scherzhaft nur Quartett in B.P.-Dur heißt und Felix im Autograph ausdrücklich schreibt: Für B.P. 

Doch davon später. 

Denn als erstes komponiert Felix ja sein Streichquartett Nr. 2 in a-moll op. 13. Ich bin eben im Begriff ein Violin-quartett zu beendigen, es ist zum Weinen sentimental und sonst nicht übel glaube ich (23. Oktober 1827). Warum er die beiden Werke wohl später umreiht? Seine Gründe verrät er niemandem, wie so vieles andere auch. Felix ist ein Großmeister im Geheimhalten und Verschlüsseln. Heiter, unkompliziert, gelassen scheint er und verspielt; sprachbegabt und wortgewandt macht er uns glauben, dass er alles, was er zu sagen hat, in Worten ausdrücken kann und dies auch tut. Immerhin hinterlässt er über 5000 Briefe. Doch das Eigentliche bleibt trotzdem sein tiefes Geheimnis. Nur in Töne kann er es fassen, und vieles lässt er darin vielsagend: verschwinden. Mit seiner Schwester Fanny korrespondiert er oft nur in Musik. Und ganz in Musik verständigt Felix sich auch mit jemanden, den er auf ganz andere Weise liebt, bewundert, bei dem er sich verstanden fühlt: Ludwig van Beethoven. Jenseits von Raum und Zeit tauscht Felix sich intensiv mit Ludwig aus, nach dessen Tod im März 1827. Manche denken, er (der mit vollem Namen „Jakob Ludwig Felix“ heißt) nimmt in seinem Streichquartett in a-Moll einfach Anleihen bei seinem Vorbild, zitiert, imitiert. Doch nein, es handelt sich um echte Auseinandersetzung, einen Austausch von Gedanken, ein Zwiegespräch; was es bedeutet, können wir nur erahnen. Es geht um das Leben und die Liebe und die Musik, soviel ist sicher. Muss es sein? Diese Frage hat Beethoven als Motto über sein letztes Streichquartett gestellt (Nr. 16 in F-Dur op. 135). Felix antwortet ihm mit seinem Quartett in a-moll und stellt im selben Rhythmus eine Gegenfrage: Ist es wahr? 

Der erste Satz beginnt in A-Dur, heiter, liebend, hoffnungsfroh und voll ziehender Sehnsucht. Im Adagio taucht es erstmals auf, das schlichte, fragend aufwärts punktierte A-Dur-Thema aus Felix‘ kürzlich geschriebenem Liebeslied. Ist es wahr? Dann: Schmetterlinge im Bauch. Die unerbittlich von lebhaften Zweifeln und widerstreitenden Gefühlen gejagt werden, in a-Moll, schmerzhaft von Hoffnung durchzogen, von fragenden Aufwärtsbewegungen davongetragen, Allegro vivace. Es muss doch wahr sein! 

Im zweiten Satz kehrt Ruhe ein, in das bange Herz des Liebenden. Ob es nun wahr ist oder nicht – egal, es ist schön! Doch die Ruhe währt nur kurz. Schon fängt Felix an, fugativ Gedanken zu wälzen, tritt in Zwiesprache mit Ludwig, lässt dessen f-Moll Quartett (Nr. 11 op. 95) anklingen, in dem auch er eine Liebe verarbeitet hat, eine unerwiderte… Was meinst du, Ludwig? Am Ende schimmert Hoffnung durch. Vielleicht wird es ja doch wahr.  

Im Intermezzo versinkt Felix in einen wunderschönen Sommerliebesnachtstraum. Am Ende jedoch kehrt er in die Wirklichkeit zurück und springt wild entschlossen in Oktavsprüngen abwärts, wie Ludwig im vierten Satz seines Streichquartetts Nr. 14 in cis-Moll op. 131 – und im zweiten Satz seiner Neunten. Es wird wahr werden!

Den letzten Satz beginnt Felix mit einem Rezitativ (ohne Worte allerdings, wie es eben so seine Art ist) und spricht wieder mit und zu Ludwig: O Freunde, nicht diese Töne … erzählt er wortlos in eigenen Worten nach. Die Fortsetzung? … wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein… Felix stürzt sich in ein abenteuerliches Presto. Und am Ende steht, in liebevollem A-Dur, die alte Frage – Ist es wahr? 

Zwei Jahre später ist Felix keinen Schritt weiter gekommen, in seinem Liebeswerben um B.P., das so verschlüsselt ist, dass nicht einmal B.P. selbst davon weiß. Seine Schwester Fanny – weiß alles. Am 17. Juni 1829 schreibt sie: „Wie steht es denn mit deinem Quartett an B.P.? Hält die alte Neigung noch für zwei neue Stücke? Sonntag war sie hier; u. da spielte ich ihr das gewiss absurde Scherzo vor; sie lachte.“ Am 22. September berichtet Felix seiner Schwester, dass es fertig sei, sein Quartett in Es-Dur. Fanny wird zwei Wochen später den Maler Wilhelm Hensel heiraten. Ihren einzigen Sohn wird sie Sebastian Ludwig Felix nennen, nach ihrem geliebten Bruder und seinen beiden wichtigsten Lehrmeistern. Große Teile des Quartetts schreibt Felix auf seiner England-Reise. Begonnen jedoch hat er es in Berlin, wo er im Haus von Bettys Familie ein und aus geht. Denn ihr Vater ist auch leidenschaftlicher Sammler von Musik-Autographen. Und Felix hat sich angeboten, die umfangreiche Sammlung zu ordnen. Das gibt ihm die Möglichkeit, Johann Sebastian Bach im Original zu studieren. Und nebenbei vielleicht Betty zu treffen?

Wieder einmal tauscht Felix sich mit Ludwig aus. Im einleitenden Adagio des ersten Satzes seines Es-Dur-Quartetts hinterfragt Felix das Kernmotiv von Ludwigs Streichquartett in Es-Dur (Nr. 10 op. 74, komponiert in Felix‘ Geburtsjahr 1809). Was genau fragt er ihn da wohl? Eine mögliche Antwort findet sich im nachfolgenden Allegro non tardante: Sei heiter und zögere nicht! Das Motiv nämlich beginnt mit einem Quartsprung aufwärts: B - Es. Verwendet Felix hier die alte Technik des „Soggetto cavato dalle parole“? Damit kann ein musikalisches Thema gewissermaßen aus Wörtern geholt werden. Felix hat hier die musikalischen Buchstaben von Betty Pistor komponiert – meinen manche Musikwissenschafter und vielleicht auch seine Freunde, wenn sie von „B.P.-Dur“ sprechen. Josquin des Prez hat die Technik ursprünglich erfunden. Er verwendet Solmisationssilben, um Wörter in musikalischen Werken zu verschlüsseln; spätere Komponisten nützen die normalen Notennamen. Am Ende des ersten Satzes steht jedenfalls wieder: B – Es. 

Im zweiten Satz herrscht Wehmut und Freude zugleich. Denn der muntere Charakter der Canzonetta wird von einer Tonart überschattet, die tiefe Traurigkeit ausdrückt, g-Moll. Und die Vorzeichen sind: B und Es… Eingeschoben, in G-Dur, eine Erinnerung an den Sommernachtsliebestraum. Und am Ende steht wieder das wehmütig freudige Anfangsthema, löst sich in einzelne Pizziccato-Tränen-Tropfen auf, bleibt als Frage in der Luft hängen… und wahrt dann doch noch vier Takte lang die Fassung. 

Der dritte Satz – ein sehnsuchtsvolles Andante espressivo, in B-Dur, Vorzeichen: B und Es… Der vierte Satz: attacca! in c-Moll, eine Tonart, über die Schubart in seiner Ästhetik der Tonkunst schreibt: Liebeserklärung, und zugleich Klage der unglücklichen Liebe. – Jedes Schmachten, Sehnen, Seufzen der liebetrunknen Seele, liegt in diesem Tone. 

Am Ende führt Felix, Allegro non tardante, zurück zum Hauptmotiv des ersten Satzes, und sagt wieder und wieder und ganz am Schluss noch einmal: B – Es! 

Und so gelingt Felix eine der schönsten und geheimsten Liebeserklärungen der Musikgeschichte. Nicht wahr?

 

 

Sabine M. Gruber


(Die CD wurde mit dem Ö1-Pasticcio-Preis 2/2013 ausgezeichnet.)