Etwas hat sich verändert, François sieht es von weitem. Die Scheiben der Auslage des Teeladens sind mit Stoff verhängt. Ihm sinkt der Mut, obwohl er das handbeschriebene Stück Papier noch nicht lesen kann. Er will die Schritte zügeln. Die Füße gehorchen ihm nicht. Gleichmäßig schreiten sie fort. Fast rennen sie ihn gegen die Ladentür. Angewurzelt bleibt François stehen, angestrengt liest er. Unverzüglich dreht er sich um, schlägt den Kragen des Mantels hoch, macht sich auf den Heimweg. Er könnte die U-Bahn nehmen, doch da sind große Fugen, droht Gefahr, verschlungen zu werden. Frische Luft ist sehr gesund. Er geht zu Fuß, nimmt den Weg zurück, den die Füßeihn hierher getragen haben.
Sehr gesund ist frische Luft. Den Menschen nicht nahe treten. Und niemals in die Zwischenräume. In Fugen zwischen Pflastersteinen treten. Ist gefährlich wie als Kind.
Knie hast du schlimm aufgeschürft. Blutig das rechte Knie aufgeschürft. Die Pflastersteine sind sehr groß. Größer als auf anderem Weg. Einen Fuß vor anderen setzen.
Den anderen Weg nicht nehmen. Hat sehr gefährlich große Fugen. Den Blick hältst du gesenkt. Wäre nur der Wind nicht. Den Hausflur auf Zehenspitzen durchqueren.
Lärm willst du keinen machen. Rücksicht nehmen auf andere Mieter. Du gehst immer auf Schuhspitzen. Schuhe Größe fünfundvierzig trägst du. Spitze ragt nicht über Fliese.
Den Aufzug nimmst du nicht. Sehr große Gefahr großer Fuge. Große Fuge könnte dich verschlingen. Steigen über Treppen ist gesund. Aufzugfahren wirst du eines Tages.
François weiß, wie groß die Schritte zwischen den Stockwerken sein müssen. Etwas in ihm bestimmt die Geschwindigkeit, etwas bestimmt die Größe, er kann nicht anders. Das bange Gefühl bleibt. Ob sich alles ausgehen wird, auf fünf, bis zum nächsten Treppenabsatz, bis zur Tür seiner Wohnung. Alles muss sich auf fünf ausgehen, immer.
Sonst droht Unglück. Wo, denkt er, als er die Tür aufsperrt, einmal, zweimal, wo sollst du künftig die Kekse hernehmen. François schließt die Tür hinter sich, dreht den Schlüssel sorgfältig herum, dreimal, viermal, fünfmal. Alles muss sich auf fünf ausgehen. Wie,
denkt er, wie sollst du genau den Tee wieder finden. François knöpft den Mantel auf, zieht ihn aus. Was, denkt er, was wird ohne Kekse aus François werden. Er fingert nach der Schlaufe, hängt auf dem Kleiderständer neben der Tür den Mantel auf. Die Schuhe zieht er nicht aus. Langsam nähert er sich dem großen Spiegel. In exakt abgemessenen Schritten nähert er sich dem Bild, mit genau der vorgesehenen Geschwindigkeit. Bedrohlich nahe ist er dem Bild gekommen. Der Zusammenstoß ist unvermeidlich, diesmal, denkt er, wirst du mit ihm zusammenstoßen. Kurz davor schließt François die Augen, schlägt einen Haken nach links. Er ist erleichtert, zugleich fühlt er Stolz. Mit fünf Schritten ist er beim Schreibtisch. Auf dem Schreibtisch steht die Schreibmaschine. Links liegt der Stapel mit weißem Papier, rechts der andere Stapel. Voll beschriebene Seiten bilden den zweiten Stapel, einzeilig voll beschrieben. François klappt den Discman auf, ängstlich: Die CD ist drinnen. Erleichtert steckt er sich die Kopfhörer in die Ohren. Die Armbanduhr legt er neben die Schreibmaschine. Dahinter stapeln sich Bücher, feinsäuberlich übereinander, Bücher über den Komponisten François Couperin.
Vom linken Stapel ein Blatt. Exakt an die Walze legen. Fünfmal drehst du die Walze. Wie weit, weißt du genau. Du hörst es, spürst es.
Noch einen Knopf drückst du. Jetzt spielt das Gerät Musik. Ein Stück Klaviermusik spielt es. Gleichmäßig spielt das Klavier Töne. Auf Schnüre fädeln sie sich.
François komponierte die schönste Musik. Noch einen Knopf drückst du. Damit das Stück sich wiederholt. Alle zweieinhalb Minuten wiederholt es sich. Schön wie François komponierte niemand.
Töne hämmern perlend auf Schnüren. Wiederholen sich alle zweieinhalb Minuten. Schreiben kannst du trotzdem nicht. Ohne Kekse und ohne Tee. Perlend hämmern Töne auf Schnüren.
Der Besitzer ist in Rente gegangen. Keine Kekse mehr, kein Tee. Dankt Kunden für langjährige Treue. Mehr sagt das Handgeschriebene nicht. Der kleine Keksteeladen hat geschlossen.
Aber Herr François! Bei so einem schönen Wetter im Zimmer sitzen. Gleich lasse ich frische Luft ins Zimmer. Ach, waren Sie schon draußen! Ihre Schuhe haben Sie auch noch an. Mich stört das nicht, wissen Sie, die Janka mischt sich da nicht ein, aber das muss doch unbequem sein, den ganzen Tag in Schuhen. Der Herr François wird doch nicht wieder den Wollmantel angezogen haben. Der ist doch viel zu warm. Gleich hänge ich den leichten heraus. Den wollenen nehm ich mit, in die Reinigung. Hören Sie die Vögel zwitschern? Dort unten sitzt eine Amsel. Da! Sie läuft über die Klopfstange! Eine ganz besonders fette. Würmer gibt es ja genug. Obwohl, es hat schon so lange nicht geregnet. Die Katze schleicht auch schon wieder herum, d unten im Hof, die grau getigerte, die ein bisschen hinkt. Jetzt springt sie auf die Bank. Die weiß, wo es das schönste Sonnen-plätzchen gibt. Eine Katze müsste man sein. Heiß ist es heute wieder. Wenn wenigstens ein Wind ginge, was sage ich, ein Lüftchen wär schon ein Segen. Aber nein, sie steht, die Luft. Kein Hauch von einem Lüftchen. So, und jetzt macht die Janka dem Herrn François eine schöne Kanne Tee. Ich frage mich, wie Sie diesen riesigen Vorrat aufbrauchen wollen. Da müssen Sie mindestens doppelt so alt werden, was sage ich, dreimal so alt. Also das wären dann – über hundert muss der Herr François werden, wenn er den ganzen Tee austrinken will. Von den Keksen rede ich gar nicht. Sie sind ja noch so ein junger Mensch. Ich sag ja nichts, aber Sie sollten mehr unter die Leute gehen.
Du gießt die Tasse dreiviertelvoll. Einen Zuckerwürfel löst du auf. Fünfmal musst du fünfmal umrühren. Vier winzige Schuss Milch hineingeben. Das Keks nimmst du auseinander.
Vanillefülle nur auf einer Hälfte. Mit Zähnen langsam Fülle abschaben. Überreste mit der Zunge ablecken. Zunge verteilt Geschmack von Vanillecreme. Mund ist auf Keks vorbereitet.
Fünf Jahre hast du gelesen. Leben des Komponisten François Couperin. An einem Zehnten geboren wie du. Zehn geteilt durch zwei ist fünf. Orgel und Cembalo spielte er.
Du hast das Klavier gespielt. Gut hast du es gespielt. Nur François hast du gespielt. Nichts anderes als nur François. Nur nicht auf dem Cembalo.
Klaviertasten hämmern Ton für Ton. Klaviertöne hämmern beherzt auf Schnüren. Gleichmäßig spielt das Klavier beherzt. Auf Schnüre fädeln Töne sich. Beherzt hämmern die Töne schnurgerade.
So ein junger Mensch ist der Herr François noch! Ich werde nächste Woche schon fünfundsechzig, stellen Sie sich vor, Ihre Janka wird fünfundsechzig. Da kann sie übrigens nicht kommen, die Janka, an ihrem Geburtstag, wissen Sie, weil da macht mein Enkerl mit mir einen Ausflug. Ich schicke dem Herrn François die Adriane, keine Sorge. Die Adriane wird Ihnen Ihren Tee bringen, die Kekse auch. Vom Tee ist ja noch genug da, wie gesagt, von den Keksen sowieso. Ich persönlich verstehe nicht, warum der Herr François nicht zur Abwechslung einmal Schokokekse isst, aber bitte. Die frische Wäsche bringt die Adriane auch. Ich nehme die schmutzige heute mit. Bis nächste Woche ist sie sicher fertig. Im Staubsaugen ist die Adriane noch besser als ich, stellen Sie sich vor! Die sieht alles, das können Sie mir glauben, jedes noch so kleine Staubkorn sieht die. Der Herr François wird zufrieden sein. Ja, ich weiß, das Klavier abstauben ist heikel, das große schwarze Klavier. Mit dem weichen Handschuh wird die Adriane das machen, genau wie die Janka. Dem Klavier wird nichts passieren, das schwöre ich Ihnen. Ich weiß ja nicht, was es mit diesem Klavier auf sich hat. Es braucht viel Platz. Bald füllt es das ganze Zimmer aus. Man kann es nicht einmal aufmachen. Ist doch immer zugesperrt! Schlüssel steckt auch keiner. Wie soll da jemand spielen können. Vielleicht kann der Herr François ja Klavier spielen. Können Sie aber nicht, weil es ja immer zugesperrt ist. Brauchen Sie noch etwas? Die Fenster mache ich wieder zu. Im Kühlschrank ist noch alles, was der Herr François gerne isst. Frankfurter Würstel, Gouda Käse, Extrawurst, hart gekochte Eier. Also wenn der Herr François für heute nichts mehr braucht, dann gehe ich jetzt. Den Wollmantel nehme ich mit in die Reinigung. Morgen komme ich wieder. Der Herr François braucht sich keine Sorgen machen.
Lebensgeschichte von Françoiscouperin schreibst du. Komponiert hat er siebenund-zwanzig Suiten. Sieben minus zwei ist fünf. Komponiert hat er lustige Namen. Le Tic-Toc-Choc ou Les Maillotins.
François komponierte die schönste Musik. Die Kunst des Cembalospielens. Schrieb er siebzehn hundert sechzehn. Geht sich auf fünf aus. Darüber bist du sehr erleichtert.
Geburtsjahr ist sechzehn hundert achtundsechzig. Eins plus sechs plus sechs. Plus acht ist dreiund zwanzig. Zwei plus drei ist fünf. Fünf ist eine schöne Zahl.
Die Zahl fünf liebst du. Siebzehn hundert dreiunddreißig starb François. Eins plus sieben plus drei. Plus drei ist vier zehn. Vier plus eins ist fünf.
Prinzen, Prinzessinnen lehrte er spielen. François Couperin hat sechzehn Buchstaben. Sechs minus eins ist fünf. Cembalo spielen lehrte er sie. La bandoline, les idées heureuses.
Fünf Stunden möchte François an seinem Schreibtisch sitzen, aber nicht in einem Stück. Nach zweieinhalb möchte er eine große Pause machen, in der Küche Würstel mit Ei essen. Bald kann er nicht mehr ruhig sitzen. Er muss aufstehen, herumlaufen. Er umrundet fünfmal das Klavier. Dann geht er den Flur entlang, bis zur Eingangstür, wieder zurück, geradewegs auf den Spiegel zu. Fast wäre er zusammengestoßen, mit dem Spiegelbild. Gerade noch schlägt er einen Haken nach links. Mit fünf Schritten erreicht er den Schreibtisch. Dann setzt er sich wieder. Seine innere Uhr zeigt ihm an, wann es mit der großen Pause so weit ist. Trotzdem liegt neben der Schreibmaschine die Armbanduhr, nur zur Sicherheit. Früher hämmerte er Couperin in die Tasten des großen schwarzen Flügels, sämtliche siebenundzwanzig Suiten für Cembalo. Er spielte sie am Klavier. Nichts anderes spielte er, nur diese siebenundzwanzig Suiten, schon als Kind. Die Eltern kauften ihm früh ein Klavier. Nur am Klavier konnte er still sitzen. Später hörten ihm viele Menschen zu, sehr viele Menschen. Doch das war, bevor die Angst kam, die große Angst. Eines Tages, während ihm wieder einmal sehr viele Menschen zuhörten, in einem sehr großen Saal, klappte er den großen schwarzen Flügel zu. Er ging nach Hause, sperrte den großen schwarzen Flügel im Wohnzimmer zu, warf den Schlüssel weg. Seither hämmert er in die Schreibmaschine. Niemand hört ihm dabei zu. Wenn er eine Tasse Tee leer getrunken hat, nimmt er die Kanne vom Stövchen, gießt die Tasse wieder sorgfältig voll, zu exakt Dreiviertel. Wie viel er nehmen muss, weiß er genau. Milch muss noch Platz haben. Umrühren muss er noch können. Er nimmt ein Keks, bricht es auseinander, schabt die Fülle von der einen Seite, lässt beides im Mund zergehen, die Fülle, das Keks. Dann spannt er ein neues Blatt Papier ein. So wie er früher die siebenundzwanzig Suiten in die Tasten gehämmert hat, hämmert er jetzt die Lebensgeschichte von François Couperin in die Schreibmaschine. Das Leben des Komponisten verlief ereignislos, es hat auf einer einzigen Seite Platz. Immer wieder spannt er ein unbeschriebenes Blatt Papier in die Schreibmaschine ein, um es voll zu schreiben, mit einem Leben, das immer wieder auf einer einzigen Seite Platz findet.
Für Ludwig XIV. komponierte François. Eins plus vier ist fünf. Besondere Vorkommnisse gab es nicht. Die schönste Musik komponierte er. Gleichmäßig ist sein Leben verlaufen.
Vom linken Stapel ein Blatt. Exakt an die Walze legen. Fünfmal drehst du die Walze. Wie weit, weißt du genau. Bei Fünf durchströmt dich Erleichterung.
Besondere Vorkommnisse kamen nicht vor. Wie in deinem eigenen Leben. Eine Seite reicht fürs Leben. Gleichmäßig verlief François Couperins Leben. Sein Leben auf einer Seite.
Wieder ein Blatt nach rechts. Eine Seite voll François‘ Leben. Seine Nase war sehr groß. François Couperin, Sieur de Crouilly. Eine große Perücke trug er.
Töne hämmern perlend auf Schnüren. Jetzt einen neuen Bissen Keks. Bald gehst du zu Bett. Die Schuhe musst du ausziehen. Morgen musst du Kekse kaufen.
Etwas hat sich verändert, François sieht es von weitem. Die Scheiben der Auslage des Teeladens sind mit Stoff verhängt. Ihm sinkt der Mut, obwohl er das handbeschriebene Stück Papier noch nicht lesen kann. Er will die Schritte zügeln. Die Füße gehorchen ihm nicht. Gleichmäßig schreiten sie fort. Fast rennen sie ihn gegen die Ladentür. Angewurzelt bleibt François stehen, angestrengt liest er. Unverzüglich dreht er sich um, schlägt den Kragen des Mantels hoch, macht sich auf den Heimweg. Er könnte die U-Bahn nehmen, doch da sind große Fugen, droht Gefahr, verschlungen zu werden. Frische Luft ist sehr gesund. Er geht zu Fuß, nimmt denselben Weg zurück, den die Füße ihn hierher getragen haben.
Gedruckt in: Die Presse/Spectrum 11/2010
© 2010 Sabine M. Gruber