Fischfunk oder wie man sich unter Wasser (unter)hält. Christoph Ransmayr.


Angeregt durch phantastische Unterwasserbilder lässt Christoph Ransmayr* sieben Damen & Herren submarin verschwinden, um sie dortselbst in Meerestiere zu verwandeln. Allesamt luftweltmüde Menschen, die jeweils an einem sehr individuellen Wassertrauma leiden. Gewissermaßen durch eine Lösung zweiter Ordnung, die Metamorphose, befreit der Schriftsteller sie von ihren Luftweltängsten, man könnte auch sagen: ein Fall von Konfrontationstherapie. Ein Wasserbettverkäufer (Platz-Angst) mutiert zur Imperialgarnele; eine Schwimmlehrerin (Angst vor Ertrinken) findet sich als Kronenqualle wieder; ein Installateur (Dicht- und Inkontinenzprobleme) schwimmt als Geisterpfeifenfisch; eine Umweltministerin (Nichtschwimmerin) wird zum Flohkrebs; eine Schönheitskönigin (Angst vor Schönheitsverlust durch Dehydrierung) verwandelt sich in einen verführerischen Rotlippen Fledermausfisch; ein Wasserbauingenieur (Überschwemmungsangst) wird zur Nacktschnecke. Schließlich: Ein Museumswärter mit Angst vor Schweißausbrüchen mutiert zum zehnarmigen Riesen-Riffkalamar, und das ist gut so, sonst hätte uns die Geschichte womöglich niemand erzählt!
Ich frage mich immer: Wo genau verschwindet der Schriftsteller in seinem Werk und mutiert dort zu einer Figur, einer Eigenschaft, einem Gegenstand, einem Gedanken, einem Thema? Wohl gemerkt: Ich frage mich, nicht ihn. Schriftsteller werden nicht gern danach gefragt und können es mitunter auch gar nicht sagen.
An Zufälle glaube ich nicht. Und so glaube ich, dass der Schriftsteller aus den Unterseephotos seines Künstler-Freundes Manfred Wakolbinger** den zehnarmigen Riesen-Riffkalamar nicht zufällig für die Rolle des Erzählers ausersieht. Äußerlich – keine Ähnlichkeit, nein, das kann ich aus eigener Anschauung bezeugen. Und doch. Der Riffkalamar ist Einzelschwimmer, hat gleich drei Herzen und besitzt die Fähigkeit, sich vielarmig an der Wirklichkeit unter Wasser festzusaugen, um sie sich einerseits einzuverleiben und sie andererseits zu erforschen; ja, der Kalamar wird zum: Forscher!
„Oder gibt es eine bessere Bezeichnung für einen, der versucht, über sich selbst und seinesgleichen, über sein Woher und Wohin, über seine Entwicklung, seine Verwandlungen und die natürlichen Gesetze der Welt so viel in Erfahrung zu bringen, wie sich nur in Erfahrung bringen lässt?“
Und, so der erzählende Riffkalamar weiter:
„Ich schwebe und schwimme Spuren und Verweisen nach und erzähle mir meine Welt noch einmal neu, bin Sprecher und Zuhörer zugleich, Lehrer und Schüler…“
Spricht so ein Riffkalamar? Nein! Er funkt, er fischfunkt es. Unter Wasser hört sich das mit der Sprache am Ende überhaupt auf, das mühsame Suchen nach dem richtigen Wort, die ewig quälende Unsicherheit, ob das endlich gefundene auch wirklich das richtige ist: Wundersam erfüllte Sehnsucht eines Sprachbesessenen nach wortlosem Verstehen. Wobei: Nur mit Seinesgleichen kann der Riffkalamar sich per Fischfunk verständigen: mit Verwandelten. Die sich übrigens jederzeit vermehren könnten. Alle Menschen könnten sich verwandeln, auch Du und ich. Die anderen Meerestiere sind einfach nur Meerestiere und bleiben von all dem Fischfunk unberührt.
Fragt sich nur: Wie ist das unter Wasser mit Musik? Wird sie auch durch Fischfunk übertragen? Zu welchem Meerestier wird Franz Hautzinger mutieren, der Trompeter? Der den erzählenden Ex-Museumswärter begleiten wird. Oder hat er sich womöglich schon verwandelt?
 Ja, und nachdem der Riesenkalamar sich dazu nicht äußert (oder habe ich das, unverwandelt, nicht mitbekommen?), bleibt mir nichts anderes übrig, als doch den berühmten Schriftsteller um Auskunft zu bitten.
 Ich frage also per Strompost*** an, ob die Möglichkeit eines Gesprächs bestünde, im Betreff jedoch steht: Interview. Ein unbeabsichtigter Test, der zu folgendem Ergebnis führt: Gespräche mag er. Interviews nicht. Die nämlich sind für einen Schriftsteller äußerst zeitraubend. Wörtliche Zitate müssen autorisiert werden, womöglich bearbeitet, wieder genehmigt. Denn so leicht und vorläufig mündlich Erzähltes ist, so schwer und endgültig wird es im Augenblick der schriftlichen Fixierung, vom ewigen Gedächtnis des Internet ganz zu schweigen. Andere Künstler können einigermaßen unbekümmert reden, ihr eigentliches Ausdrucksmittel bleibt davon unberührt. Der Schriftsteller jedoch hat nur dieses eine: die Sprache. Und so wird, ob er will oder nicht, alles öffentlich Verschriftlichte zu einem Teil seines Werks.
Seine Abneigung gegen Interviews hat der Schriftsteller in einer Art Konfrontationstherapie bearbeitet, in einem Band mit dem Titel: Geständnisse eines Touristen. Untertitel: Ein Verhör. Er, der auf Reiseformularen bei Beruf am liebsten Tourist einsetzt, gibt hier ebenso literarische wie autobiographische Antworten auf fiktive Fragen von bohrenden Journalisten, die große Ähnlichkeiten mit wirklichen Fragen aufweisen. Die Lektüre seiner Geständnisse legt er mir, per Strompost, ans Herz. Da drinnen nämlich, davon sei er überzeugt, stünde mehr, als in jener Kaffeehausstunde zu besprechen wäre, welche er mir in selbiger Strompost anbietet.
Soll ich mein Mini-Aufnahmegerät überhaupt mitnehmen? Ich stecke es in die Tasche, im letzten Moment, nicht ganz überzeugt. Später, in einer Fensternische des Café Eiles, stelle ich die Aufnahme-Frage erst nach einer ganzen Weile. Der Schriftsteller ist schon mitten im Erzählen. Auf dem schmalen Kaffeehaustisch, der mir fast bis zum Hals reicht, platziere ich das Gerät, möglichst unauffällig; und halbherzig, denn elektronische Ohren haben eine nicht vorhersehbare Wirkung.
Die Trompete sei gar nicht seine Idee gewesen; er sei dem Projekt sogar mit Skepsis begegnet; Literatur und Musik, in der klassischen Abfolge, das habe er sich nur schwer vorstellen können. Doch – was für eine wunderbare Überraschung! Die unerhörten Töne die Franz Hautzinger diesem Instrument zu entlocken vermöge, die Bandbreite an Klangfarben und dynamischen Nuancen, im Piano beinahe – Flötentöne! und die unglaubliche Improvisationsgabe; fast habe er ein schlechtes Gewissen, weil die Trompete sich vollkommen anpassen müsse, an ihn und seinen fertigen Text, mit vollem Risiko; sie spinne ihn ein, mitsamt seinen Worten, wie in einen Kokon; ähnlich dem Musik-Kokon, mit dem er sich selbst beim Schreiben umgebe, um sich von Umweltgeräuschen abzuschotten, sogar oft mit Kopfhörern.
Musik ist äußerst wichtig, im Leben des Schriftstellers. Begeistert erzählt er von seinem Projekt bei den Salzburger Festspielen. Das größte in seinem Leben, so etwas wird es nie wieder geben. Eine ganze Woche lang hatte er die Möglichkeit mit Texten und Musik und Licht und Bildern zu spielen, an verschiedenen Spielorten. Alle nur denkbaren technischen Möglichkeiten standen ihm zur Verfügung und großartige Musiker. Elisabeth von Magnus, zum Beispiel, und sogar: Der Arnold Schoenberg Chor! Das Instrument der Schriftstellers? Der absolute Gegenpol zur Trompete: die Querflöte. Er hat sie früher gut gespielt und gern mit anderen, nur hat das Schreiben immer mehr Raum eingenommen, auf Kosten des Flötenübens. Warum die Flöte? Weil es faszinierend ist, mit dem eigenen Atem Töne zu erzeugen; weil man sie leicht auf Reisen mitnehmen kann; eine Flöte und ein kleiner Zaubertrick – damit kann man auf der ganzen Welt mit Menschen Kontakt aufnehmen, wortlos. Eine riesige Sammlung von Flöten  – alle verschenkt. Bis auf zwei oder drei hat er alle: verschwinden lassen.
Gegen Ende des Gesprächs schreibt Christoph Ransmayr in zwei Bücher Widmungen für mich, mit Kugelschreiber; und erzählt, dass er für seine Notizen nur Bleistifte verwendet. Der Bleistift sei klein, reisefreudig, unverwüstlich; mit Bleistift Geschriebenes überdauere, von mutwilligem Ausradieren abgesehen, die Zeiten.
Bleistiftschreiben ist kein Zufall; es trägt die Möglichkeit des Festhaltens und Verschwindenlassens prototypisch und ambivalent in sich, der Schriftsteller nützt sie radikal: Das mit Bleistift Festgehaltene lässt er am Ende - verschwinden.
Nach Hause zurückgekehrt, höre ich die Minidiskette ab. Stille. Achtzig Minuten Unterwasserstille.
Festhalten und verschwinden lassen, ist das etwa ansteckend? Oder hat Christoph Ransmayr seinen Zaubertrick**** angewendet, den er immer auf Reisen mitnimmt, demnächst in den Südpazifik?
Ein Text entsteht, indem das, woraus er entsteht, verschwindet. Etwas verschwindet, damit sich etwas Neues, von Grund auf anderes entwickeln kann. Das Vorläufige - ist nicht für die Ewigkeit bestimmt.

 


* Geb. 1954, aufgewachsen in Roitham bei Gmunden, studierte Philosophie und Ethnologie und lebt in Wien, wenn er sich nicht gerade auf einer seiner ausgedehnten Reisen befindet, die ihn in die entlegensten Gebiete der Welt führen. Seine Romane: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Die letzte Welt, Morbus Kitahara, Der fliegende Berg. In der Weißen Reihe sind außerdem bisher acht Prosaarbeiten zu verschiedenen Spielformen des Erzählens erschienen, u.a. Geständnisse eines Touristen und Damen & Herren unter Wasser. Seine Bücher wurden in in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und vielfach mit literarischen Preisen ausgezeichnet.


** Christoph Ransmayr: Damen & Herren unter Wasser. Eine Bildgeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger
*** Email (© Christoph Ransmayr)
**** Die Erklärung ist banal. Ich hatte das Mikro zu Hause in irgendeinen Ausgang auf dem Gerät gesteckt und nicht mehr kontrolliert – es war der falsche.