Vom Hauch des Lebens und des Todes.

Mozarts KV 622

    Ein Faden entspinnt sich, durchsichtig, unaufhörlich, unzerreißbar. Funkelnd wechselt er die Farbe und unmerklich Stärke und Beschaffenheit. Sich entspinnend webt er Klang, dicht und luftig. Das Muster wird sichtbar. Licht aus einer fernen Galaxie scheint durchzuschimmern; oder ist es ein Lächeln? Da und dort entspinnt sich ein dunkler Punk; doch augenblicklich webt Helligkeit ihn fort; war es ein dunkler Punkt oder der Schatten eines hellen? Während das Gewebe sich entspinnt, verdichtet sich der Faden, noch immer durchsichtig, nun aber mollig weich, im Grundton hell; Tropfen von Tau spinnt der Faden ein; oder sind es Tränen? Da und dort wieder ein dunkler Punkt, augenblicklich weggesponnen von Helligkeit; war es ein dunkler Punkt oder der Schatten eines hellen?
    Karl Böhm soll beim Abhören der Schallplattenaufnahme von Mozarts Klarinettenkonzert nach dem zweiten Satz zum Solisten Alfred Prinz gesagt haben, ergriffen, (anstatt wie sonst ein bißchen grantig): „Gö, Prinz, des spüst ma, wann i amoi nimma bin… “ In Out of Africa spielt ein altes Grammophon diesen zweiten Satz, in einer heißen Wüstennacht, im Angesicht des unausweichlichen Todes von Robert R. Christian Gailly wählt das Konzert als Rahmenhandlung für seinen Roman KV 622 und stellt es, in einer Hommage von wenigen Seiten, als Mozarts Vermächtnis  dar, mit welchem WAM nach seinem Tod vor seine letzten, strengen Richter tritt.
    Einmal angenommen, keiner der drei hätte den Zeitpunkt gekannt, zu dem Mozart sein Klarinettenkonzert komponiert hat. Keiner hätte gewußt, daß es Mozarts letztes vollendetes Werk ist. Hätte der Musiker, hätte der Regisseur, hätte der Schriftsteller es in dieser Weise mit dem Tod in Verbindung gebracht? Für alle drei war der Mythos des Letzten Werkes wohl Voraussetzung, Bedingung, Symbol. Doch konnten sie ihn auch hören, den Tod?
Musik wahrnehmen ist ein Wechselspiel von Aus-ihr-heraus-hören, was in ihr ist, und In-sie-hinein-hören, was in uns ist.
    Der erste Satz.
    A-Dur in vollendeter Anmut und Heiterkeit. Wenn auch seltsam fallend. Die Klarinette mischt sich in das anmutig heitere, wenn auch seltsam fallende Geschehen, selbstverständlich, so als hätte sie schon eine ganze Weile mitgespielt, in Gedanken, noch ohne Bewußtsein. Warum ausgerechnet die Klarinette und warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in Mozarts Leben, frage ich mich. Anton Stadler, Mozarts begnadeter Freund und Klarinettist! antwortet mir die Musikwissenschaft. Für ihn und die von ihm speziell gebaute Bassettklarinette hat Mozart das Konzert geschrieben. Ist das die Antwort? Jedes Kunstwerk hat seinen Anlaß in der Außenwelt, sei dieser Anlaß nun konkret oder vom Künstler nur vorgestellt. Doch kein Kunstwerk, das diesen Namen verdient, wird jemals ohne inneren Anlass geschaffen. Gleichzeitig. Synchron. Akausal. Warum also die Klarinette und warum ausgerechnet jetzt. Kleine Sekunden fallen sanft hin und her, ein Triller bewegt sich abwärts, in Zeitlupe, in einer harmlose Zerlegung nach unten. Da streift mich unvermutet eine Antwort. Der Diabolus in Musica. Der Tritonus. Verwirrend, weil im mollig warmen Klang der Bassettklarinette, und flüchtig, kaum wahrnehmbar, denn schon im Erklingen löst er sich vorschriftsmäßig auf. Zu spät. Schon hat er in mir dieses Empfinden ausgelöst, das Empfinden, das Ennio Morricones Mann mit der Mundharmonika in Spiel mir das Lied vom Tod in mir erzeugt, oder der legendäre Georges Brassens mit seinem morbiden Chanson Il n‘y a pas d‘amour heureux. Es gibt keine glückliche Liebe. Absicht ist unwahrscheinlich, dafür ist die Passage zu kurz, zu flüchtig; und die Ähnlichkeit ist zu gering, als daß ein Musikwissenschafter, der etwas auf sich hält, ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken würde. Zufall? Dafür wiederum ist die Wirkung zu ähnlich. Der Mann mit der Mundharmonika braucht eine ganze Spielfilmlänge; Mozart genügen zwei mal zwei Takte um, ganz ohne Film, etwas in mir zu säen, das ich hinterher kaum in Worte fassen kann. Was in der Musik hat was in mir gestreift? Oder hat etwa umgekehrt etwas in mir die Musik gestreift?
    Der zweite Satz.
    A-Dur schreitet fort. Anmut wird würdig und Heiterkeit ernst. Ein Kirchenlied. Eine Prozession. Inmitten der Prozession die Klarinette. Erst schreitet sie selber mit, dann verschwindet sie, wird schreitend getragen. Noch kann es jede Prozession sein. Fronleichnam. Hochzeit. Palmsonntag. Begräbnis. Aber da hebt die Klarinette an, eine Kantilene zu singen, eine Melodie, die fällt, während sie steigt, sich endlos dehnend. Superzeitlupe. Und ehe ich sie meinem Empfinden wegen unverzeihlicher Banalität verbieten kann, ist sie schon da, die Assoziation. Spiel mir das Lied vom Tod. Once upon a time in the west. Kopie, Inspiration, Nachempfinden? Morricone hielt es nach eigenen Aussagen während seiner klassischen Ausbildung mehr mit Bach und Strawinsky, von einer Affinität zu Mozart ist nichts bekannt. Also vielleicht bloß Ausdruck desselben? Bei Morricone singt an dieser Stelle eine weibliche Stimme, bei Mozart die Bassettklarinette. Und wieder frage ich mich: Warum ausgerechnet die Klarinette und warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in Mozarts Leben. Ist Anton Stadler wirklich die Antwort? Die Bassettklarinette hat einen besonders weiten Tonumfang. Hat Mozart das Konzert für Anton Stadler geschrieben, damit dieser seine Virtuosität ausspielen konnte? Oder hat Anton Stadler das Instrument für Mozart gebaut, um ihm, kurz vor seinem Tod, die Möglichkeit zu schenken, die letzten Höhen und Tiefen seines Lebens auszuloten? Die Klarinette ist wie vielleicht kein anderes Blasinstrument Inbegriff des natürlichen fließenden Atems. Und Atmen ist ebenso Symbol für Leben wie das Fehlen des Atmens Tod bedeutet.
    Der dritte Satz.
    Rondo. Ungetrübte Heiterkeit und Anmut in A-Dur. Kein Schatten fällt auf das Thema. Da biegt es nach Moll ab, wie ein Wanderer, der, einer Eingebung folgend, vom lichtdurchfluteten, breiten, geraden Weg in ein Waldstück abbiegt, nicht sehr düster, nicht sehr dunkel, aber tief und verschlungen. Der Weg verengt sich und führt stetig abwärts, während die Bäume ringsum in den Himmel wachsen. Der Wanderer beeilt sich, zurück auf den geraden Weg zu kommen, entschlossen, von diesem nicht mehr abzuweichen. Nur ja keine Bangigkeit aufkommen lassen: sie nach bewährter Methode einfach wegpfeifen. Wie Schuberts Musensohn. Nur seinen Blick läßt er reminiszierend in das Waldstück schweifen, dann und wann. In der Erinnerung schließlich, in der Erinnerung an das bange Gefühl des dunkel abwärts führenden Weges und an die Bäume, die bedrohlich himmelwärts wachsen, taucht wieder die Melodie auf, die verzweifelt zu steigen versucht, während sie fällt. Jedoch wird sie nur angespielt – Fragend und ohne Atem bleibt sie im Raum hängen – Der Wanderer hält inne – einmal – ein zweites Mal – Und dieses Innehalten ist randvoll mit allem, was sich nicht wegpfeifen läßt. Geballt drückt es aus, was das Konzert als ganzes ausdrückt, was Mozarts Musik immanent ist: Wissen um Begrenztheit, Versprechen von Ewigkeit, gleichzeitig. Der ultimative Trost. Nach dem fragend atemlosen Innehalten gelingt das Wegpfeifen dem Wanderer perfekt. Fast perfekt. Wie immer bei Mozart endet das Leben damit, daß es weitergeht. Der Faden entspinnt sich von neuem, unzerreißbar, mit dunklen Punkten, da und dort, augenblicklich weggesponnen von Helligkeit. Sind es dunkle Punkte? Oder sind es Schatten von hellen?
Kunst und Biographie sind kaum jemals synchron. Kunst antizipiert, nimmt Künftiges vorweg, und macht zugleich das Gegenteil. So schafft der Künstler Heiteres, mitten im Elend des Lebens und Trauriges im größten Lebensglück. Was er in der Zeit des Schaffens im wirklichen Leben erlebt, ist zu frisch, zu eindeutig, und deshalb geradezu tabu. Erst durchgemischt mit Vergangenem und Künftigem fügt es sich zum Kunstwerk.
    Hat Mozart eine Todesahnung in sein Klarinettenkonzert hineinkomponiert? Höre ich sie hinein oder heraus?
    Zu viele Fragen und zu wenige Antworten.
    Aber ist es nicht das Wesen der Kunst, mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten?

 

(© Sabine M. Gruber 2005)


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