Nikolaus Harnoncourt liest eine Messe für Joseph Haydn.



       Während Joseph Haydns Todestag sich in diesem Jahr zweitausendneun zum zweihundertsten Mal jährt, wird Nikolaus Harnoncourt erst jugendliche achtzig. Dem Älteren zu Ehren liest der Jüngere nun eine Messe. Was? Nikolaus Harnoncourt liest eine Messe? Wurde er etwa für besondere Verdienste um die Kirchenmusik, honoris causae, in den geistlichen Stand erhoben?
Natürlich liest der Dirigent nicht eine Messe, sondern nur die Noten einer solchen, in diesem Fall die Noten von Haydns Paukenmesse. Nur? Notenlesen ist nicht so leicht, wie es auf den ersten Blick aussieht. Es ist ungefähr genau so schwierig wie Gedankenlesen.
    Nebenbei bemerkt: Ich finde es immer wieder seltsam, ein rundes Gedenkjahr an den Tod von jemandem zu feiern, Haydns rundes Todesjahr zum Beispiel; vor allem, wenn es mit einen runden Geburtstagsjahr zusammenfällt – mit dem von Haydns Lieblingsdirigenten, in unserem Fall. Man laviert sich allseits so durch und verwendet dabei den beliebten Ausdruck „Jahres-Regent“, was immer das sein mag. Warum nicht zur Abwechslung einmal bewusst die einfache, naheliegende Brücke schlagen, zwischen dem Tod des einen und dem Leben des anderen? In Musikern wie Harnoncourt lebt Haydns Musik weiter, ja, Musiker wie er erwecken sie überhaupt erst zum Leben. Gäbe es nicht Musiker wie Harnoncourt, Haydns Notenköpfe wären nichts als – tote Knöpfe.
    Noten, für sich genommen, sind weder die Musik, die der Komponist im Kopf hatte, noch geben sie diese auch nur annähernd vollständig wieder. Etymologisch betrachtet bedeuten Noten nur Merk- und Erinnerungszeichen, nicht mehr und nicht weniger. Der Komponist notierte, was er in sich drinnen hörte, fühlte, empfand, sich vorstellte, notierte es, zur Erinnerung. Im Grunde ist es so ähnlich, wie wenn Menschen wie Sie und ich, einen Gedanken aufschreiben; um ihn nicht zu vergessen, um ihn zu verewigen oder einfach nur, um unserem Gedächtnis später auf die Sprünge helfen zu können. Wir notieren längst nicht alles, das ist gar nicht möglich. Wir fassen zusammen, verkürzen, auf einen einzigen Satz vielleicht aus all dem Gedachten, mitunter auf nur ein Wort, womöglich gar ein Kürzel. Später dann, beim Lesen des Satzes, Wortes oder Kürzels, fällt uns alles wieder ein. Fast alles. Zumindest mehr als das, was wir notiert haben. Hoffentlich.
Haydn erinnerte sich beim Anblick eines von ihm notierten Notenkopfes an etwas, an etwas ganz Bestimmtes; der notierte Knopf entfaltete sich, füllte sich mit all dem Lebendigen, das er – verkürzt – wiedergeben sollte. In Haydns Kopf füllte sich der Notenkopf mit Erinnerungen, mit lebendigem Inhalt. Und das war viel mehr als was Sie oder ich zweihundert Jahre später sich vorstellen können.
    Deshalb ist Notenlesen ungefähr so schwierig wie Gedankenlesen.
    Es beginnt schon mit dem Lesen der Vor-Zeichen – scheinbar die einfachste Sache der Welt und doch vielleicht das Schwierigste überhaupt, denn die Tonart ist es, welche die Notenköpfe einbettet und ihnen ihre Grundbedeutung gibt.
Vor der Erfindung der modernen gleichstufigen Stimmung, zu deren Ideal und oberstem Ziel das Ausmerzen aller Unterschiede erklärt wurde, hatte jede Tonart bekanntlich ihren eigentümlichen Klang und wurde von Komponisten entsprechend dieser Eigentümlichkeit verwendet, verkomponiert gewissermaßen; schon die Tonart also war in dieser „alten“ Musik kompositorischer Inhalt.
Wie soll man so eine Tonart heutzutage noch richtig lesen? Abhandlung über die Charakteristik der Tonarten – gibt es. Doch leider nicht nur eine, sondern deren viele; und von Abraham Bartolos berühmter Musica Mathematica (1614) über Christian Friedrich Daniel Schubarts Ästhetik der Tonkunst (1806) und die Aesthetik der Tonkunst, Erster Theil von Ferdinand Gotthelf Hand (1837) bis Hector Berlioz‘ Grand Traité d'Instrumentation et d'Orchestration modernes (1856) – es herrscht keineswegs Einigkeit, ja, die Autoren kommen bisweilen sogar zu genau gegenteiligen Interpretationen. Die Beschreibungen der Bedeutung der Tonart C-Dur zum Beispiel schwanken ungefähr zwischen: fröhlich und unschuldig, martialisch und naiv – Jubel und Sargdeckel. Das ist doch alles höchst widersprüchlich.
    Oder auch nicht.
    Haydn hat aus Anlass des Namenstages der Fürstin Maria Hermengildis Esterhazy im Jahre 1796 seinen Pflichten gemäß eine Messe komponiert; uraufgeführt wurde sie wahrscheinlich an eben diesem Tag, dem 13. September in Eisenstadt, vielleicht auch erst am 26. Dezember in der Wiener Piaristenkirche; fest steht, dass Napoleon in dieser Zeit der Hauptstadt Wien bedrohlich nahe rückte, und dass Haydn seine Namenstagsmesse Missa in tempore belli nannte, eine Messe in der Zeit des Krieges.
    Diese Messe steht in C-Dur.
    Ihren Beinamen hat sie wegen der Paukenschläge im Agnus Dei, in denen Haydn quasi den Krieg anklingen lässt, sagt man, als ob die französischen Truppen mit ihren Trommeln einmarschierten, heißt es, eine Art politisches Zitat. Und auf dieses Zitat warten die Zuhörer womöglich das ganze Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Benedictus lang. Und beim Warten sind wir leider immer in Gefahr, unwiederbringlich zu versäumen, was indessen geschieht.
    Warten wir einmal nicht. Hören wir stattdessen aufmerksam zu, wie Nikolaus Harnoncourt die Paukenmesse liest.
    Siehe da! Oder vielleicht besser: Unerhört! Der Krieg beginnt schon mit dem ersten Ton, oder vielmehr: die Kriegszeit. Schon vom ersten Ton im Kyrie an ist die Pauke allgegenwärtig, stimmt sanft auf die Zeit des Krieges ein, macht sich immer wieder bemerkbar, lauert stets im Hintergrund auf ihre kleinen und großen Auftritte; der erste: plötzliches Forte im Kyrie. Die Zeit des Kriegs ist viel mehr als nur der Krieg. Nicht nur die Soldaten schließt sie ein und das Schlachtfeld, sondern das ganze Volk, mit Frauen, Kindern, Hühnern und Vieh und dem Hab und Gut, das auf dem Spiel steht und natürlich immer: das nackte Leben. Krieg lässt sich reduzieren auf Schlachtfeld, Trommeln, Schießen. Kriegszeit jedoch – hat sie nicht auch das ganze Davor, Danach und Dazwischen zum Inhalt, in dem die namensgebenden Paukenschläge nur eine Episode sein können? Das verzweifelte Bangen ist in ihr, das zaghafte Hoffen, die naive Zuversicht, das fröhliche Unterdrücken der Todesangst, das vorübergehend gnädige Vergessen, der todesmutige Siegeswille, der männlich geschulte Kampfgeist, der erlösende Jubel, das sehnliche Herbeiwünschen des dauernden Friedens und der kindliche Glaube an diesen, der wenn nötig auch felsenfest herbeigeredet wird.
    Und plötzlich, während wir dem Kriegsgeschehen aufmerksam lauschen, so wie Nikolaus Harnoncourt es liest, da hören wir, dass die widersprüchlichen Beschreibungen der Tonart C-Dur einander nur scheinbar widersprechen. Eine Tonart ist gar nicht eindeutig und daher auch nicht eindeutig beschreibbar. Sie ist nicht bloß eine einzelne Farbe, sie ist eine ganze Farbenkarte in einem Farbenfächer - eine Klangfarbenkarte in einem Klangfarbenfächer; eine Tonart dient dazu, ein ganz bestimmtes Spektrum von Gefühlen und Stimmungen zum Ausdruck zu bringen, die miteinander verwandt sind oder einander ergänzen, jedenfalls auf irgend eine Weise zusammengehören. Wenn Joseph Haydn innerhalb eines Werkes in C-Dur etwas ausdrücken möchte, das über dieses Spektrum hinausgeht, greift er intuitiv zu anderen, benachbarten, Klangfarbenkarten.
A-Dur, zum Beispiel, wählt er für das Adagio im Gloria, ein Dialog zwischen dem Volk und seinem Sprecher, dem Chor und dem Bass-Solisten, begleitet von einem Cello. Der Philosoph Ferdinand Gotthelf Hand schreibt : „An Innigkeit überwiegt diese Tonart alle anderen, wenn weder Leidenschaftlichkeit die ruhige Hingabe stört, noch eine schmerzliche Sehnsucht die Reinheit das Glücks trübt.“
„Ausdruck der Wehmuth, der Trauer, [...] des Verlangens nach Trost [...] Aber auch dem Grabgesang kann diese Tonart dienen [...]“. So be schreibt Ferdinand Gotthelf Hand c-moll. In c-moll schreibt Haydn den Beginn des Benedictus in der Paukenmesse, eine traurig gestammelte Frage: Soll ich Gott wirklich preisen? Haydns Antwort lautet am Ende: C-Dur. Das Gottvertrauen siegt einmal mehr über den Zweifel.
    Die Bedeutung der Notenköpfe erschließt sich also unter anderem in der Tonart, diese aber wiederum entschlüsselt sich nur durch die Notenköpfe – keine leichte Aufgabe also, wie gesagt, das Notenlesen. Gelingt nur dem, der wirklich Haydns Gedanken lesen kann. Nehmen wir als kleine Leseprobe das Sanctus. Drei Zeilen, vierzehn Worten, zwei Minuten Musik bringen die ganze Bedrängnis menschlicher Existenz auf den Punkt.
    Nikolaus Harnoncourt liest das ungefähr so.
    Eingangs sprechen die Geigen, leise, ohne Worte noch. Um Gott gnädig zu stimmen? Dazu erhebt sich zaghaft eine Stimme, eine weibliche Stimme aus dem Volk, betend, bittend, bittersüß: bring Heil… bitte… bitte, Gott, bring uns Heil! Das männliche Volk lässt sie nicht ausreden, fällt ihr ins Wort ein, insistiert: Heil, ja, genau! Das weibliche Volk stimmt zu: Heil, sagen wir doch die ganze Zeit. Was ist los? Hört Gott nicht zu? Das ganze Volk bittet ein letztes Mal, ruhig, leise, traurig, schmeichelnd. Du, der du Heil bringen kannst, bring es uns doch! Plötzlich ist die Volksgeduld erschöpft. Wut über den anhaltenden Unfrieden entlädt sich, mit Pauken und Trompeten. Wovon sind Himmel und Erde erfüllt? Von deiner Herrlichkeit? Was? Das also verstehst du unter Herrlichkeit? Am Ende sitzt Gott ja doch am längeren Ast. Na gut, glauben wir dir eben, was bleibt uns auch anderes übrig, sagt eine männliche Stimme, stellvertretend, versöhnlich. Der heilige Geist flattert auch kurz vorbei und gibt seinen Segen. Optimismus macht sich breit. Vorläufig.
     Vielleicht wird Joseph Haydn von Nikolaus Harnoncourt überhaupt am besten gelesen. Kein Wunder, die beiden sind ja miteinander verwandt.
    Was! Gibt es etwa neue genealogische Erkenntnisse?

    Nein, natürlich nicht, Harnoncourt und Haydn verbindet eine andere, eine höhere Art von Verwandtschaft – aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. (© Sabine M. Gruber – Musikfreunde 3/2009)

 

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