Nikolaus Harnoncourt: Jede Note muss wissen, woher sie kommt und wohin sie geht.

 

Zum 75. Geburtstag.


Der Dirigent betritt das Konzertpodium, elegant, im Frack, ein Mann unbestimmten Alters, schlank und hochgewachsen; verneigt sich im Applaus des Publikums, wendet sich zu den Musikern und Sängern um, atmet ein, macht eine Bewegung. Musik. Minutenlang nur Atem, Musik, beinahe unmerkliche Bewegung. Plötzlich ein Vexierbild. In einem leichten Vorwärtsneigen sehe ich den Mann unbestimmten Alters jung, sehr jung; für Bruchteile einer Sekunde bewegt sich da vor mir der Jüngling; im nächsten Augenblick jedoch, als er sich aufrichtet, sehe ich ihn älter, viel älter; Sekundenbruchteile lang habe ich den Greis vor mir, ehe sich beide, Jüngling und Greis, in dem Mann unbestimmten Alters auflösen.
Die Zeit, in der ein Künstler als jung gelten darf, ist für ihn in der öffentlichen Diktion mit Erst und Schon benannt. Auf die kurze Zeit des Jungseins folgt eine kurze Zeitspanne des glücklichen, adverblosen Daseins. Wem es gelingt, diese Zeit zu überleben, ohne gleich wieder in der Namenlosigkeit zu versinken, weil schon so viele Ersts und Schons Schlange stehen, auf den wartet bald, das Wörtchen Noch. Und am Ende besiegelt eine Hinzufügung zu diesem Noch das öffentliche Schicksal des Künstlers: Immer. Am 6. Dezember feiert der Dirigent seinen 75. Geburtstag. In seinem Künstlerleben gab es kein Erst und Schon. Und heute – noch immer keine Spur von Noch, geschweige denn Immernoch. Wenn er vor den Musikern und Sängern steht, kommt der Gedanke daran keinem in den Sinn. Er strahlt nicht Jugend aus und auch nicht Alter; er strahlt aus, was er immer ausgestrahlt hat. Nikolaus Harnoncourt eben.
Oft habe ich mich gefragt: Was ist es. Was lässt mich von Nikolaus Harnoncourt gemachte Musik blind erkennen. Was haben seine Slawischen Tänze und sein Messias gemeinsam. Verschiedene Komponisten, verschiedene Stile, verschiedene Epochen, verschiedene Klangkörper. Und doch verbindet sie etwas. Ist es Nikolaus Harnoncourts Entschiedenheit, die jeden musikalischen Augenblick durchdringt? Seine Entschiedenheit, die ihn jedem einzelnen musikalischen Augenblick gegenüber eine bestimmte Haltung einnehmen lässt? In jedem Augenblick weiß er, was er tut, und warum. Nichts ist zufällig, beiläufig, irgendwie. Und alle, die mit ihm musizieren, wissen das auch. Kann man es hören? Seine Entschiedenheit hat man ihm in der Vergangenheit oft angekreidet, sie oft missverstanden als starr, stur, apodiktisch. Doch Nikolaus Harnoncourts Entschiedenheit ist all das nicht. Sie ist vom Leben erfüllt, vom wirklichen Leben. Sie verlässt sich nicht auf sein Wissen, wenn mich auch allein dieses Wissen immer wieder staunen lässt. Er ist ein Wissender im höheren Sinn, mit einer unerhört differenzierten und intensiven Wahrnehmungsfähigkeit begabt, die Empfindung, Intuition und Fühlen ebenso umfasst wie denkende Verarbeitung all dessen, was er wahrnimmt. Seine Entschiedenheit erhebt keinen Anspruch auf allgemeine oder gar ewige Gültigkeit. Sie meint nicht: So, und niemals anders! Sie meint schlicht: So. Es sind durch und durch persönliche Entscheidungen, die zwar auf dem schriftlich Überlieferten basieren, auf den Noten, auf dem Text, auf den Vorschriften, auf all dem, was er gelesen hat, denn sonst wäre es ja beliebig. Doch hier, wo die allermeisten aufhören, hier fängt Nikolaus Harnoncourt erst an. Hier kommt sein Geist, seine Seele, sein Körper ins Spiel, sein Leben, sein persönliches Erleben. Kann es sein, dass diese ununterbrochene Kette von persönlichen Entscheidungen hörbar wird? Für jeden Zuhörer? Macht das den Unterschied? Denn das müsste doch jeder Musiker tun, sich in jedem Moment persönlich entscheiden. Doch nein, nicht jeder tut das. Die wenigsten tun es. Sonst könnte nicht immer mehr von dieser Musik produziert werden, für die nichts spricht, außer, dass niemand etwas dagegen sagen kann. Das nämlich kommt dabei heraus, wenn nicht jeder musikalische Moment Ergebnis einer persönlichen Entscheidung ist: Musik, gegen die niemand etwas sagen kann. Alle Noten, die der Komponist geschrieben hat, sind voll ausgespielt und werden nicht vor dem Ende des angegebenen Notenwerts schwächer. Das Schluß-s von Sanctus kommt aus 36 Mündern exakt auf „zwei und“. Einem gleichmäßigen Crescendo folgt ein gleichmäßiges Decrescendo, so, wie es in den Noten steht. Der Klang ist makellos, das Vibrato vollendet, die Verzierung virtuos gespielt. Eine perfekte Wiedergabe. Nur: was eigentlich wird wiedergegeben? Das Notenbild?
Für Nikolaus Harnoncourt ist Musizieren nicht nur kein bloßes Wiedergeben, sondern überhaupt kein Wiedergeben. Kein farb- und makelloses, perfektes, schönes Abpinseln eines Notenbildes. Musizieren ist ein primärer schöpferischer Prozess. Wie Malen, wie Dichten, wie Komponieren, nur mit anderen Mitteln. Alles andere wäre: Nichts.
Nikolaus Harnoncourts größter Widersacher ist Zeit seines Lebens nicht ein anderer Dirigent, nicht ein moderner Orchesterklang, nicht eine Festspielleitung, sondern: NICHTS. Unermüdlich und hartnäckig bekämpft er Nichts, indem er in jedem Moment eine Entscheidung für Etwas trifft, für Inhalt, für Kunst. Mancher Dirigent verweist auf eine höhere Dimension „hinter“ und „über“ der rein klanglich-materiellen Realisierung einer Komposition. Im rein Klanglich-Materiellen dürfe sich Musik doch nicht erschöpfen… Musikrezeption als abstrakter geistiger Akt also, der auch unabhängig vom konkreten Erklingen stattfinden sollte, wenn sich der Zuhörer nur genug anstrengt? Doch die Werke, vor denen wir heute in geistiger Ehrfurcht erstarren, sind von Menschen aus Fleisch und Blut geschaffen. Sie hatten nicht nur einen genialen Geist. Sie hatten Leib und Seele. Sie waren in Körpern gefangen und mit einer meist komplizierten Psyche ausgestattet. Sie konstruierten ihre Musik nicht auf dem Reißbrett. Sie waren keine Hobby-Künstler, die komponierten, statt etwa Golf zu spielen, weil es regnete oder weil der Seidenmalkurs ausgebucht war. Komponieren war ihr Leben, sie haben ihr Leben komponiert. Zersetzende Angst, himmelhohes Jauchzen, unglückliche Liebe, tiefe Verzweiflung, stille Hoffnung… All das steckt drinnen, in den Noten. Aber es kommt nicht heraus, wenn der Musiker nicht den Mut hat, seine Angst hineinzulegen, seine Freude, seinen Hass, seine Verzweiflung und seine Hoffnung, wenn er nicht den Mut hat, die Musik aus seinem Inneren zu schöpfen, als würde sie zum ersten Mal erklingen. Musik machen, Wahrnehmen von Musik, erschöpft sich nicht im Geistigen, im Werk an sich. Im realen Erklingen, im schöpferischen Prozess des Musizierens, erfasst sie den Menschen, den musizierenden wie den zuhörenden, in seiner Ganzheit, mit Haut und Haar, mit Leib und Seele. Während die geistige Dimension vielleicht schon beim bloßen Studieren einer Partitur erfasst werden kann, drücken sich die seelischen und körperlich-sinnlichen Tiefenschichten von Musik erst und nur im Klang aus, werden erst und nur im realen Erklingen erlebbar, erfassbar, erspürbar. Nikolaus Harnoncourt beschränkt sicht nicht auf den intellektuellen Prozess der Durchdringung einer Komposition, er erfasst sie im selben Maß seelisch und körperlich: er MACHT Musik. Seine Quellenstudien sind nicht zuletzt dadurch motiviert: Aufspüren von Hinweisen auf Leib und Seele des Komponisten. „Der Haydn hat ja eine Bissgurn als Frau gehabt, weiß ja eh jeder… und das ist hier eingearbeitet“, bemerkt er mittendrin im Liebesduett in der Schöpfung. Weiß das jeder? Nein, das weiß nicht jeder.
Viele Missverständnisse in der Geschichte der Rezeption von Nikolaus Harnoncourts Musizieren basieren vermutlich auf diesem einen Missverständnis: die Beschränkung seiner Beweggründe auf eine rein intellektuelle Ebene. Er ist ein Mensch mit genialem psychologischen Spürsinn und vor allem: ein durch und durch sinnlicher Mensch. Warum eigentlich dirigiert er ohne Dirigentenstab? Selbst große Symphonieorchester? Aus Prinzip. Aus historischen Gründen. Um die Kritiker zu ärgern oder zu beschäftigen. Weil er originell sein will. Aus Trotz. Aus Gewohnheit. Aus Sturheit. Oder ist es vielmehr Ausdruck von körperlicher Unmittelbarkeit, eine Geste, welche die Musik, das Tonmaterial, gleichsam formen möchte, mit bloßen Händen. Und Ausdruck der Verbundenheit seines Musizierens mit dem wirklichen Leben, das niemals so entsetzlich spitz ist und niemals so furchtbar präzise. Warum eigentlich trägt er in den Proben keine Business-Hemden? (Ein Hauptthema und besonderer Kritikpunkt, schier unglaublich, in einer Probe mit einem sehr berühmten Orchester an einem sehr berühmten Ort, Gott sei Dank schon Jahre her.) Aus Protest. Weil er vom Land kommt. Weil er sie sich nicht leisten kann. Oder vielleicht doch, weil sich ein weites Flanell-Hemd besser anfühlt… Warum die „alten Instrumente“, warum überhaupt die „alte Musik“? Auch hier gibt es neben der geistigen wohl eine sinnliche Wurzel, eine klangsinnliche und zugleich eine psychologische. Die „alte“ Musik – sie ist nicht nur erbaulich. Musik war und ist eine Art, die Welt zu ordnen, Spiegel und Motor des Individuums und der gesellschaftlichen Strukturen, in denen dieses Individuum lebt. „Alte“ Musik weckt und befriedigt Sehnsüchte nach anderen Weltordnungen, wenn, ja wenn das Musikmachen über das bloße Einhalten von Formen hinaus reicht. Der neu entdeckte Klang eines „historischen“ Instruments ist auf- und anregend wie der Duft einer „alten“ Rosenart, der Geschmack eines „alten“ Gewürzes, einer „alten“ Apfelsorte. Er eröffnet neue Möglichkeiten des Zusammenklingens und damit immer wieder neue Klänge. Er hat seinen eigenen Charakter und seine eigene Magie. Er stößt andere Türen unserer Seele auf, lässt uns, wortlos, einen Blick auf gleichsam historische Seelen- und Sinneszustände erhaschen.
Das formal Richtige, das Tadellose bedeutet Sicherheit. Die Entscheidung für Inhalte bedeutet Risiko. Das eine ist solides Handwerk, das andere ist Kunst. Beim Musizieren mit Nikolaus Harnoncourt gibt es niemals Sicherheit. Auch nicht in Proben. Gnadenlos entlarvt er jede Beiläufigkeit, jedes Irgendwie, jede Unentschiedenheit, jede Unverbindlichkeit. Eh nur eine Probe… gibt‘s nicht. Eh nur … gibt‘s überhaupt nicht. Kunst ist entweder jetzt – oder sie ist gar nicht. Doch nicht nur für die Musiker gibt es keine Sicherheit. Die Musik, die er macht, ist auch für den Zuhörer nicht pure Entspannung und Erbauung und gaukelt keine heile Welt vor; dann wäre es nicht Kunst; denn Kunst hat nicht die Aufgabe, uns schöngeistig von uns selber abzulenken, sondern uns in uns hineinzuwerfen. Sie muss uns berühren, bewegen, erschüttern, die Augen öffnen, uns ängstigen, provozieren, glücklich machen, uns in unsere eigenen Abgründe stoßen und wieder herausziehen, Verdrängtes aufwühlen, unser Inneres auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Nach einem Konzert mit Nikolaus Harnoncourt geht der Zuhörer, der sich darauf eingelassen hat, nicht entspannt und erbaut nach Hause. Bisweilen ist er sogar erschöpft. Aber in jedem Fall: erfüllt.
Nikolaus Harnoncourts Mut zum Risiko ist mit etwas gepaart, das längst nicht so selbstverständlich ist, wie es klingt: Mut zum Scheitern. Scheitern, beruhigte Nikolaus Harnoncourt einmal die verzweifelnden Chorsoprane in Beethovens Ode an die Freude, Scheitern sei quasi musikimmanent und mitkomponiert, Scheitern sei ganz normal und überhaupt nicht etwas, vor dem man sich fürchten müsse. Deshalb ist er, allen Gegnern und Skeptikern zum Trotz, nie gescheitert: weil er sich selbst und anderen die Möglichkeit des Scheiterns ein- und zugesteht, es als etwas betrachtet, das im Leben selbst mitkomponiert ist und dem man nur mit einer einzigen Strategie begegnen kann: indem man in jedem Augenblick seines Lebens alles einsetzt, was man einsetzen kann. Sich selbst, mit Leib und Seele.

 

(© Sabine M. Gruber 2005)


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