Felix Mendelssohn Bartholdy: Lieder im Freien zu singen (Sämtliche Lieder für gemischten Chor a cappella op. 48, op. 41, op. 59, op. 88, op. 100)

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Das Waldfest

 

Liebe Mutter!                                                                                      3. Juli 1839

(…) Das schönste, was ich aber in meinem Leben bis jetzt von Gesellschaften gesehen habe, war ein Fest im Walde hier, das ich Dir genau berichten muss, weil es einzig in seiner Art war. Eine Viertelstunde vom Wege ab, tief im Walde, wo hohe dicke Buchen einzeln stehn und oben ein großes Dach bilden, und man rings umher nur grünen Wald durch die vielen Stämme durchschimmern sah, da war das Local; man mußte auf einem kleinen Fußweg durch's Gesträuch sich dahin arbeiten, und sobald man auf dem Platze ankam, sah man in der Entfernung die vielen weißen Gestalten unter einem Rand von Bäumen, die mit dicken Blumenkränzen verbunden waren, und der den Concertsaal vorstellt. - Wie lieblich da der Gesang klang, wie die Sopranstimmen so hell in die Luft trällerten, und welcher Schmelz und Reiz über dem ganzen Tönen war, alles so still und heimlich und doch so hell, - das hatte ich mir nicht vorgestellt. - Es war ein Chor von etwa zwanzig guten Stimmen, aber bei einer Probe im Zimmer hatte manches gefehlt, und alles war unsicher gewesen. Wie sie sich nun den Abend unter die Bäume stellten, und mein erstes Lied „Ihr Vöglein in den Zweigen schwank“ anhoben, da war es in der Waldstille so bezaubern, daß mir beinah die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es. Und so schön sah es aus, - alle die hübschen weißgekleideten Frauengestalten, und Herr B. in Hemdsärmeln stand in der Mitte und schlug Takt, und die Zuhörer saßen auf Feldstühlen, und Geräthkörben, und im Moose. So sangen sie das ganze Heft durch, und dann drei neue Lieder, die ich dazu componiert hatte, und das dritte (es heißt Lerchengesang) wurde kaum gesungen, nur gejubelt, und dreimal nach einander wiederholt, und dazwischen wurden auf dem feinsten Geräth Erdbeeren und Kirschen und Apfelsinen, und vielerlei Eis und Himbeersaft herumgereicht; aus dem Dickicht in der Ferne kamen überall Leute, vom Schall gelockt, und lagerten sich da, und hörten zu. Dann wurde es dunkel, und große Laternen und Windlichter in der Mitte des Chors aufgepflanzt, und sie sangen Lieder von Scheldle, und Hiller und Schnyder und Weber. Dann wurde ein großer dick bekränzter Tisch mit vielen Lichtern herbeigetragen, auf dem stand ein vortreffliches Nachtessen, mit allen möglichen guten Schüsseln und Flaschen, und zu dem Allen war es so ruhig und einsam im Walde, das nächste Haus wohl eine Stunde weit entfernt, und die dicken Stämme wurden immer dunkler und ernsthafter, und die Menschen darunter immer lauter und lustiger. - Nach Tische wurde vom ersten Liede wieder angefangen, und alle sechs durchgesungen, und dann die drei neuen, und das Lerchenlied wieder dreimal. Dann mußten wir fort. (…) Nun weiß ich erst, wie Lieder im Freien klingen müssen, und will nächstens wieder ein lustiges Heft zusammen haben.(…)
                                            Dein Felix

 

Lieder ohne Worte

   Die Versuchung, dem „Waldfest“ nichts hinzuzufügen, ist groß. Sagt der Komponist nicht alles, was wir zum Verständnis seiner Musik brauchen, als Zuhörer wie als Ausführende? Es ist, als hätte er uns 1839 eine Botschaft in die Zukunft geschickt. Mit seiner schlichten Schilderung öffnet er ein Fenster in seine Zeit, in seine Welt; erklärt uns ohne Worte seine Musik; gibt genaue Anweisungen zum Vortrag und zum Zuhören, ohne eine musikalische Vorschrift zu machen; weckt Sehnsüchte, die, uneingestanden, in uns allen schlummern.
   Nichts hinzufügen wäre vielleicht gar in seinem Sinne, er war kein Freund von Gerede über Musik. Mehr als 5000 Briefe hat er uns hinterlassen – Fachsimpeleien sind darin kaum zu finden. Es wird so viel über Musik gesprochen und so wenig gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende keine Musik mehr machen. Seiner Schwester Fanny, der seelenverwandten, komponierenden besten Freundin, schickte er so manchen Brief, der nur eine kurze Einleitung enthielt, der Hauptteil war ein Lied, ein Lied ohne Worte.
   Sich ganz ohne Worte verständlich machen können, was für ein Glück!


Felix der Glückliche

   Jakob Ludwig Felix. Von seinen drei Vornamen fiel die Wahl ausgerechnet auf den dritten. Zufall? Felix, der Glückliche, so mag ihn seine Familie, so mag er sich selbst gesehen haben. Sein Vorname entwirft ein Bild. Wunsch oder Wesen? Es entspricht jedenfalls nicht unserer Vorstellung der romantischen Künstlerpersönlichkeit – oder: unserer romantischen Vorstellung des Künstlers, welcher etwas Tragisches anhaftet, anhaften muss.
   Felix Mendelssohn hat Glück.
   Er wird in eine starke, intakte, wohlhabende Familie hineingeboren, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gibt. Er gilt als Wunderkind wie Mozart, doch da ist kein überehrgeiziger Vater, sondern ein verständnisvoll, behutsam leitender. In seiner Schwester Fanny findet er die kongeniale Seelenverwandte. Als Jude ist er von Kindheit an antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt – dass die Familie zum evangelischen Glauben konvertiert ändert daran wenig – doch bekommt er auch das innere Rüstzeug mit, sich dagegen zu wappnen. Er hat Glück im Beruf, Erfolg als Komponist und als Dirigent. Materielle Sorgen kennt er nicht. Er kann unbeschwert durch halb Europa reisen, neue, faszinierende Eindrücke sammeln, ohne die Reisekosten mühsam durch Konzerte verdienen zu müssen. Er verliebt sich glücklich und führt eine glückliche Ehe.
   Glücklichsein als programmatische Lebenseinstellung, das ist für einen Künstler ungewöhnlich. Dieses Wesen seiner Persönlichkeit, seiner Musik einfach so anzunehmen, als Geschenk zu betrachten, sich darauf einzulassen, als Musiker wie als Zuhörer, fällt nicht ganz leicht. Leichter fällt es, das Vorherrschen von Glück als Zeichen mangelnde Tiefe abzutun: Damit jedoch würden wir uns selbst als oberflächliche Betrachter erweisen.
   Glück ist nicht weniger tief als Unglück. Glück trägt sein eigenes Bedrohtsein wesensmäßig in sich, es kann ohne dieses Bedrohtsein gar nicht existieren, auch wenn es dem Glücklichen nicht bewusst ist. Aus der Spannung, die dem Glück immanent ist, komponiert Felix Mendelssohn.
   Das ist seine große Kunst.
   Seine Musik saugt auf, was an Positivem in der Welt steckt, in seiner Tiefe und Verschiedenheit. Die Grundgestimmtheit ist stets positiv: natürlich sicher, heiter, gefühlvoll, enthusiastisch, neugierig, staunend. Und alles durchweht etwas märchenhaft Entrücktes, ein Hauch von Unwirklichkeit.
   Felix Mendelssohns Musik hört sich an, als versuche sie, dem Leben so viel Raum zu geben, dass das Andere keinen Platz mehr haben möge.
   Das Andere, will heißen: Der Tod.
   In Schuberts Musik zum Beispiel ist das Andere offen hörbar. Mozart trachtet, sich und uns durch raffinierte Vexierbilder über die Allgegenwart dieses Anderen hinwegzutäuschen. Mendelssohn versucht es so: den Tod durch Lebensfülle an den äußersten Rand des Daseins drängen. Es gelingt ihm ziemlich gut. Aber nicht ganz. Denn auch im Leben von Felix, dem Glücklichen, nimmt sich der Tod den Raum, der ihm zusteht. Den Tod von Menschen, die ihm nahestehen, Vater, Mutter, verkraftet er nur schwer. Den Tod seiner Schwester Fanny schließlich, die ihm am allernächsten steht, überlebt er nicht; er erleidet einen Schlaganfall und stirbt wenige Monate später.


Im Freien singen
1839 und 2007


   Im Freien zu singen – nicht jede von Mendelssohns Liedersammlungen für gemischten Chor trägt diese Überschrift, doch sind zweifelsfrei alle in dieser Vorstellung komponiert. Wenige Wochen nach dem Waldfest schreibt Felix an seinen Freund Carl Klingemann in London:
   Die 4stimmigen Lieder will ich fortsetzen, und habe mir mancherlei ausgedacht, was mit der Art vorgenommen werden kann, und die natürlichste Musik von allen ist es doch, wenn 4 Leute zusammen spazieren gehen in den Wald, oder auf dem Kahn fahren, und dann gleich die Musik mit sich und in sich tragen. Hier liegt schon in der ganzen Zusammenstellung das Poetische, und ich möchte nur, es bewährte sich auch.
   Hat es sich bewährt? Ist es denkbar, dass sich zwei Jahrhunderte später 4 Leute zu einer Wanderung aufmachen, um in der freien Natur Lieder zu singen? Man stelle sich vor: Nicht 4 sondern 40 Sängerinnen und Sänger begeben sich anno 2007 auf eine herbstliche Wanderung, streifen frohgemut durch Wälder, die in den leuchtendsten Farben erstrahlen, gelb, orange, grün und rot; die Sänger tragen Wurstsemmeln in ihren Rucksäcken und Liederhefte; da und dort packen sie die Semmeln aus, an anderen Orten die Liederhefte, auf Geheiß des Chorleiters, um zu singen: nur zur eigenen Freude. Schließlich gelangen sie auf eine Wiese; da werden sie einer Herde von Schafen ansichtig, eingezäunt in einem Geviert, etwa 40 an der Zahl, von dunkelbraun bis naturwollfarben; die Schafe laufen durcheinander, aufgeregt blökend, während die Sänger sie ungläubig staunend umkreisen und vergeblich versuchen, sie und die unglaubliche Stimmung einzufangen, mit ihren photographischen Apparaten; eines der Schafe trägt eine Glocke um den Hals, die unentwegt bimmelt; da fällt dem Leiter des Chores ein, dass auch er eine Glocke dabei hat, um seine Sängerinnen und Sänger zusammenzutreiben; er schwenkt sie, und schon formt sich aus der verstreuten Herde ein Chor; jetzt wird eifrig das Heft ausgepackt und auf der Seite mit dem Lied O Täler weit o Höhen von Felix Mendelssohn aufgeschlagen; die 40 Sängerinnen und Sänger stellen sich vor die 40 Schafen hin, die plötzlich in ihrem Laufen und Blöken innehalten; sie fangen an zu singen und die Schafe sind ganz still; andächtig lauschen sie dem Lied, als würden sie jeden Ton verstehen, ganz ohne Worte; nachdem die dritte Strophe verklungen ist, zerstreuen sich alle wieder, die Schafe wie die Sänger, und über der ganzen Szenerie schwebt etwas ganz und gar Unwirkliches.*


*Wandertag des Arnold Schoenberg Chores am 27. Oktober 2007 anlässlich seines genau 35jährigen Bestehens.   

Sämtliche Zitate aus: Felix Mendelssohn Bartholdy, Reisebriefe aus den Jahren 1833 bis 1847, Band I und II, herausgegeben von Paul Mendelssohn Bartholdy, erschienen 1863 in Leipzig, Verlag Hermann Mendelssohn.


Glücklich im Freien

In jedem seiner 28 Lieder für gemischen Chor vertont Mendelssohn eine Nuance von „Natur und Glück“, ambivalente Inhalte lösen sich harmonisch auf: Jedes Lied lässt sich mit einem eindeutigen Lebensgefühl überschreiben – und keines wiederholt sich.

   Bewunderndes Beneiden könnte über der Nr. 1 aus Op. 41 stehen, Ihr Vöglein in den Zweigen schwank. Lebe im Augenblick! sagt uns das Mailied und: Träume nicht, liebe! ist die Botschaft von Auf dem See. Die Drei Volkslieder von Heine hingegen, die ersten Chorlieder, die Mendelssohn überhaupt geschrieben hat, erzählen eine einfache Geschichte, ein wenig traurig, ein wenig naiv, die sich so zusammenfassen lässt: Ach! Aber so ist es eben.

   Der Zyklus op. 48, Der erste Frühlingstag, beginnt mit dem Inbegriff einer Frühlingsahnung. Dann kommt behutsames Erwachen in der Primel, gefolgt von einer Frühlingsfeier, in der Mendelssohn etwas ausdrückt, das wir längst verlernt haben: Muße! Der Lerchenkanon fängt Unbeschwertheit ein, das Morgengebet ruhige Dankbarkeit und im Herbstlied verscheucht der Komponist aufkeimende bange Fragen mit kindlich naiver Zuversicht.
   Das erste der Sechs Lieder im Freien zu singen op. 59, Im Grünen, befreit uns von allem Schweren, als Vorbereitung für das Glück, das uns unverdient in den Schoß fällt, im Frühzeitigen Frühling. Der Abschied vom Wald lässt uns innerlich abgeklärt und ruhig zurück, die Nachtigall führt uns durch die bloße Kanon-Form wortlos den ewigen Kreislauf des Lebens vor Augen, der in eine Sehnsucht nach Ewigkeit mündet, im Ruhetal, das am Ende klingt wie ein Zitat aus Schuberts Deutscher Messe - „Heilig“. Selbst im Jagdlied mit seiner Zerrissenheit zwischen Bleiben und Gehen, Fernweh und Abschiedsschmerz, nimmt Mendelssohn uns zum Glück die Entscheidung ab: Weitergehen!
   Das Neujahrslied aus den Sechs Liedern op. 88 erleichtert uns das Fügen in ein Schicksal, das uns, dank Felix, am Ende doch gerecht erscheint. Der Glückliche genießt die Gewissheit des Liebens und Geliebtwerdens, schaurigschön. Im Hirtenlied gehen wir im Kampf gegen den Winter mühelos als Sieger hervor, und Die Waldvöglein drücken schlicht eines aus: Freiheit. Von Deutschland wird unsere Freiheit bedroht, aber nur kurz, und die originalen unerbittlichen Trommeln ersetzt Mendelssohn sicherheitshalber durch siegreiche Trompeten. Der wandernde Musikant verscheucht das bedrohliche Marschieren, und ersetzt es durch: frohgemutes Vorwärtsschreiten.  Das Andenken, am selben Tag komponiert wie das Neujahrslied, drückt die Sehnsucht nach dem ewigen Frühling aus, die sich im Lob des Frühlings zu erfüllen scheint, während im Frühlingslied ein leiser Zweifel auftaucht. Das letzte Lied in Mendelssohns letztem Liederzyklus op. 100 schließlich, Im Wald, scheint uns etwas sagen zu wollen, was eine der Grundlagen für Felix Mendelssohns Gabe zum Glücklichsein ist: Vertraue auf Gott!

(© Sabine M. Gruber 2007)

 

 

 

Sämtliche Liedtexte


Sechs Lieder im Freien zu singen op. 48
„Der erste Frühlingstag“

1
Frühlingsahnung
5. Juli 1839
Ludwig Uhland (1787-1862)

O sanfter, süßer Hauch!
Schon weckest du wieder
mir Frühlingslieder,
bald blüh'n die Veilchen auch.

2
Die Primel
1839
Nikolaus Lenau (1802-1850)

Liebliche Blume,
Bist du so früh schon
Wieder gekommen?
Sei mir gegrüßet,
Botin des Frühlings.

Leiser denn alle
Blumen der Wiese
Hast du geschlummert,
Liebliche Primel,
Botin des Frühlings,
Sei mir gegrüßet.

3
Frühlingsfeier
28. Dezember 1839
Ludwig Uhland
(1787-1862)

Süßer, gold'ner Frühlingstag!
Inniges Entzücken!
Wenn mir je ein Lied gelang,
Sollt'  es heut nicht glücken?

Doch warum in dieser Zeit
An die Arbeit treten?
Frühling ist ein hohes Fest:
Lasst mich ruh'n und beten!

4
Kanon
15. Juni 1839
(Textdichter unbekannt)

Wie lieblicher Klang, o Lerche, dein Sang!
Er hebt sich, er schwingt sich in Wonne.
Du nimmst mich von hier, ich singe mit dir,
Wir steigen durch Wolken zur Sonne.

5
Morgengebet
18. November 1839
Joseph von Eichendorff
(1788-1857)

O wunderbares, tiefes Schweigen,
Wie einsam ist's noch auf der Welt!
Die Wälder nur sich leise neigen,
Als ging der Herr durch's stille Feld.

Ich fühle mich wie neu geschaffen,
Wo ist die Sorge nun und Not?
Was gestern noch mich wollt' erschlaffen,
Des schäm' ich mich im Morgenrot.

Die Welt mit ihrem Gram und Glücke,
Will ich, ein Pilger, frohbereit
Betreten nur als eine Brücke                   
Zu dir, Herr, über'n Strom der Zeit.

6
Herbstlied
26. Dezember 1839
Nikolaus Lenau
(1802-1850)

Holder Lenz, du bist dahin!
Nirgends, nirgends darfst du bleiben!
Wo ich sah dein frohes Blüh'n,
Braust des Herbstes banges Treiben.

Wie der Wind so traurig fuhr
Durch den Strauch als ob er weine;
Sterbeseufzer der Natur
Schauern durch die welken Haine.

Wieder ist, wie bald! wie bald!
Mir ein Jahr dahingeschwunden:
Fragend rauscht es durch den Wald:
Hat dein Herz sein Glück gefunden?

Waldesrauschen, wunderbar
Hast du mir das Herz getroffen!
Treulich bringt ein jedes Jahr,
Neues Laub wie neues Hoffen.

Sechs Lieder im Freien zu singen  op. 41

1
Im Walde
1834 (?)
August Graf von Platen-Hallermünde
(1796-1835)

Ihr Vögel in den Zweigen schwank,
Wie seid ihr froh und frisch und frank,
Und trillert Morgenchöre.
Ich fühle mich im Herzen krank
Wenn ich's von unten höre.

Ein Stündchen schleich' ich bloß heraus
In euer lustig Sommerhaus
Und muss mich des beklagen.
Ihr lebet stets in Saus und Braus,
Seht's nachten hier und tagen.

Ihr sucht der Bäume grünes Dach,
Der Wiese Schmelz, den Kieselbach,
Ihr flieht vor Stadt und Mauer,
Und lasst die Menschen seufzen, ach!
In ihrem Vogelbauer.


Drei Volkslieder
Jänner 1934
Heinrich Heine
(1797-1856)

2 (a)
Entflieh' mit mir und sei mein Weib,
Und ruh' an meinem Herzen aus;
In weiter Ferne sei mein Herz
Dir Vaterland und Vaterhaus

Und fliehst du nicht, so sterb' ich hier,
Und du bis einsam und allein;
Und bleibst du auch im Vaterhaus,
Wirst doch wie in der Fremde sein.

3 (b)
Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht,
Er fiel auf die bunten Blaublümelein,
Sie sind verwelket, verdorret.

Ein Jüngling hatte ein Mädchen lieb,
Sie flohen heimlich von Hause fort,
Es wusst' weder Vater noch Mutter.

Sie sind gewandert hin und her,
Sie haben gehabt weder Glück noch Stern,
Sie sind gestorben, verdorben.

4 (c)
Auf ihrem Grab da steht eine Linde,
drin pfeifen die Vögel und Abendwinde,
Und drunter sitzt auf dem grünen Platz
Der Müllersknecht mit seinem Schatz.

Die Winde weh'n so still und so schaurig,
Die Vögel singen so süß und so traurig,
Die schwatzenden Buhlen, sie werden stumm,
Sie weinen und wissen selbst nicht warum.

5
Mailied
1834 (?)
Ludwig Heinrich Christoph Hölty
(1748-1776)

Der Schnee zerrinnt, der Mai beginnt,
Und Blüten keimen auf Gartenbäumen,
Und Vogelschall tönt überall.

Pflückt einen Kranz und haltet Tanz
Auf grünen Au'n, ihr schönen Frau'n,
Wo grüne Mai'n uns Kühlung streu'n.

Wer weiß, wie bald die Glocke schallt,
Da wir des Maien uns nicht mehr freuen.

Drum werdet froh, Gott will es so,
Der uns dies Leben zur Lust gegeben!
Genießt der Zeit, die Gott verleiht.

6
Auf dem See
1834 (?)
Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832)

Und frische Nahrung, neues Blut
Saug' ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unser'n Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unser'm Lauf.

Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?
Gold'ne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so Gold du bist;
Hier auch Lieb' und Leben ist.


Sechs Lieder im Freien zu singen op. 59

1
Im Grünen
23. November 1837
Helmine von Chezy
(1783-1856)

Im Grün erwacht der frische Mut,
Wenn blau der Himmel blickt.
Im Grünen da geht alles gut,
Was je das Herz bedrückt.

Was suchst der Mauern engen Raum,
Du töricht Menschenkind?
Komm, fühl hier unterm grünen Baum,
Wie süß die Lüfte sind.

Wie holde Kindlein spielt um dich
Ihr Odem wunderlieb
Und nimmt all deinen Gram mit sich,
Du weißt nicht, wo er blieb.

2
Frühzeitiger Frühling
17. Jänner 1843
Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832)

Tage der Wonne, kommt ihr so bald?
Schenkt mir die Sonne, Hügel und Wald?
Reichlicher fließen Bächlein zumal?
Sind es die Wiesen, ist es das Tal?

Bläuliche Frische! Himmel und Höh!
Goldene Fische wimmeln im See.
Buntes Gefieder rauschet im Hain;
Himmlische Lieder schallen darein.

Unter des Grünen blühender Kraft
Naschen die Bienen summend am Saft!
Leise Bewegung bebt in der Luft,
Reizende Regung, schläfernder Duft.
Mächtiger rühret bald sich ein Hauch,
Doch er verlieret gleich sich im Strauch.

Aber zum Busen kehrt er zurück.
Helfet, ihr Musen, tragen das Glück!
Saget seit gestern wie mir geschah?
Liebliche Schwestern, Liebchen ist da!

3
Abschied vom Wald
4. März 1843
Joseph von Eichendorff
(1788-1857)

O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt'ger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäft'ge Welt,
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt!

Im Walde steht geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort,
Vom rechten Tun und Lieben,
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte, schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Ward's unaussprechlich klar.

Bald werd' ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde geh'n,
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn,
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben,
So wird mein Herz nicht alt.

4
Die Nachtigall
19. Juni 1843
Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832)

Die Nachtigall, sie war entfernt;
Der Frühling lockt sie wieder;
Was Neues hat sie nicht gelernt,
Singt alte, liebe Lieder.

5
Ruhetal
4. März 1843
Ludwig Uhland
(1787-1862)

Wenn im letzten Abendstrahl
Gold'ne Wolkenberge steigen
Und wie Alpen sich erzeigen,
Frag ich oft mit Tränen:
Liegt wohl zwischen jenen
Mein ersehntes Ruhetal?

6
Jagdlied
5. März 1843
Joseph von Eichendorff
(1788-1857)

Durch schwankende Wipfel
Schießt güldner Strahl,
Tief unter den Gipfeln
Das neblige Tal.

Fern hallt es am Schlosse,
Das Waldhorn ruft,
Es wiehern die Rosse
In die Luft, in die Luft!

Bald Länder und Seen
Bald Wolkenzug
Tief schimmernd zu sehen
In schwindelndem Flug,
Bald Dunkel wieder
Hüllt Reiter und Ross,
O Lieb', o Liebe
So lass mich los! –

Immer weiter und weiter
Die Klänge zieh'n,
Durch Wälder und Heiden
Wohin, ach wohin?

Erquickliche Frische!
Süß-schaurige Lust!
Hoch flattern die Büsche,
Frei schlägt die Brust.


Sechs Lieder op. 88

1
Neujahrslied
8. August 1844
Johann Peter Hebel
(1760-1826)

Mit der Freude zieht der Schmerz
Traulich durch die Zeiten,
Schwere Stürme, milde Weste,
Bange Sorgen, frohe Feste
Wandeln sich zur Seiten.

Und wo manche Träne fällt,
Blüht auch manche Rose!
Schon gemischt, noch eh' wir's bitten,
Ist für Throne und für Hütten
Schmerz und Lust im Lose.

War's nicht so im alten Jahr?
Wird's im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken geh'n und kommen wieder,
Und kein Wunsch wird's wenden.

Gebe denn, der über uns
Wägt mit rechter Waage,
Jedem Sinn für seine Freuden,
Jedem Mut für seine Leiden
In die neuen Tage!

2
Der Glückliche
20. Juni 1843
Joseph von Eichendorff
(1788-1857)

Ich hab' ein Liebchen lieb recht von Herzen.
Hellfrische Augen hat's wie zwei Kerzen,
Und wo sie spielend streifen das Feld,
Ach wie so lustig glänzet die Welt!

Wie in der Waldnacht zwischen den Schlüften
Plötzlich die Täler sonnig sich klüften,
Funkeln die Ströme, rauscht himmelwärts
Blühende Wildnis - so ist mein Herz!

Wie vom Gebirge in's Meer zu schauen,
Wie wenn der Seefalk, hängend im Blauen,
Zuruft der dämmernden Erd', wo sie blieb?
So unermesslich ist rechte Lieb'!

3
Hirtenlied
24. Juni 1839
Ludwig Uhland
(1787-1862)

O Winter, schlimmer Winter,
Wie ist die Welt so klein!
Du drängst uns all' in die Täler,
In die engen Hütten hinein.

Und geh' ich auch vorüber
An meiner Liebsten Haus,
Kaum sieht sie mit dem Köpfchen
Zum kleinen Fenster heraus.

O Sommer, schöner Sommer,
Wie wird die Welt so weit!
Je höher man steigt auf die Berge,
Je weiter sie sich verbreit't.

Und halt' ich dich in den Armen
Auf freien Bergeshöh'n:
Wir seh'n in die weiten Lande,
Und werden doch nicht geseh'n.

4
Die Waldvögelein
19. Juni 1843
(Friedrich Wilhelm von (?) Schütz, 1756-1834, nach:)
Martin Opitz
(1597-1639)

Kommt, lasst uns geh'n spazieren
Durch den viel grünen Wald,
Die Vögel musizieren,
Dass Berg und Tal erschallt.

Wohl dem, der frei kann singen,
Wie du, du Volk der Luft,
Und seine Stimme schwingen
Zu der, auf die er hofft.

Wohl jedem, der frei lebet,
Wie du, du leichte Schar,
In Trost und Frieden schwebet
Und außer aller Fahr.

5
Deutschland
1843 (?)
Emanuel Geibel
(1815-1884)

Durch tiefe Nacht ein Brausen zieht,
Und beugt die knospenden Reiser,
Es klingt im Wind ein altes Lied,
Das Lied vom deutschen Kaiser.
Mein Herz ist jung, mein Herz ist schwer
Und kann nicht lassen vom Lauschen,
Es klingt, als zög' in den Wolken ein Heer,
Es klingt wie Adlers Rauschen.

Viel tausend Herzen heimlich glüh'n,
Und harren wie das meine,
Sie hören den Klang und hoffen kühn,
dass rot der Tag erscheine.
Deutschland, du schön geschmückte Braut,
Schon träumt sie leis' und leiser,
Wann weckst du sie mit Trompetenlaut
Wann führst du sie heim, mein Kaiser!

6
Der wandernde Musikant
10. März 1840
Joseph von Eichendorff
(1788-1857)

Durch Feld und Buchenhallen
Bald singend und bald still,
Recht fröhlich sei vor allen,
Wer's Reisen wählen will!

Wenn's kaum im Osten glühte,
Die Welt noch still und weit:
Da weht' recht durch's Gemüte
Die schöne Blütenzeit!

Die Lerch' als Morgenbote
Sich durch die Lüfte schwingt,
Ein' frische Reisenote
Durch Wald und Herz erklingt.

O Lust, vom Berg zu schauen
Weit über Wald und Strom,
Hoch über sich den blauen
Den klaren Himmelsdom!

Vom Berge Vöglein fliegen
Und Wolken so geschwind,
Gedanken überfliegen
Die Vögel und den Wind.

Die Wolken zieh'n hernieder,
Das Vöglein senkt sich gleich,
Gedanken geh'n und Lieder
Bis in das Himmelreich.


Vier Lieder op. 100

1
Andenken
8. August 1844
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
(1798-1874)

Die Bäume grünen überall,
Die Blumen blühen wieder,
Und wieder singt die Nachtigall
Nun ihre alten Lieder.
O glücklich, wer noch singt und lacht,
Dass auch der Frühling sein' gedacht.

Wohl alles, was im Schlummer lag,
Erwacht zu neuem Leben,
Und jede Blüt' an jedem Hag
Darf sich zur Sonne heben.
Was soll mir Blüt' und Vogelschall,
Du fehlst mir überall.

O liebes Herz, und soll ich dich
Nun niemals wieder sehen?
So muss der Frühling auch für mich
Ohn' Blüt' und Sang vergehen.
Was soll der Frühling doch für mich,
Was ist ein Frühling ohne dich?
Es ist kein Frühling ohne dich!

2
Lob des Frühlings
20. Juni 1843
Ludwig Uhland
(1787-1847)

Saatengrün, Veilchenduft,
Lerchenwirbel, Amselschlag,
Sonnenregen, linde Luft!

Wenn ich solche Worte singe,
braucht es dann noch große Dinge,
Dich zu preisen, Frühlingstag!

3
Frühlingslied
1843 (?)
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
(1798-1874)

Berg und Tal will ich durchstreifen
In der Frühlingstage Pracht,
Wo auf Wiesen und in Wäldern,
Die verjüngte Schöpfung lacht.

In das Wonnemeer der Düfte,
Das aus allen Blüten quillt,
Will ich ganz mich untertauchen,
Bis der Seele Durst gestillt.

Bis ich selber untergehe
In der Blüten Balsamduft,
Und aus dir verjüngt erstehe,
Du geliebte Frühlingsluft.

4
Im Wald
14. Juni 1839
(Textdichter unbekannt)

O Wald, du kühlender Bronnen,
Wie labst du die lechzende Brust!
Vom sengenden Brande der Sonne
Lädst du zu erfrischender Lust.
Und ruh'n wir beschattet von Zweigen,
Das Auge zum Äther gewandt,
So scheint sich der Himmel zu neigen,
Kühl weht's wie aus himmlischem Land.

O Wald, du Tempel der Töne,
Hoch wölbt sich dein grünendes Dach,
Hell klingt in verdoppelter Schöne
Gesang in den Wipfeln noch nach.
Und rührt uns beim Klange der Lieder
Des Gottes allmächtige Hand,
Dann säuselt's aus Zweigen hernieder.

 

 

(Begleittext zur Aufnahme "Lieder im Freien zu singen" mit dem Arnold Schoenberg Chor unter Erwin Ortner, © Sabine M. Gruber 2007) CD bestellen