A Song for Anything - Gerald Finley.

 

 

    A song - for anything… Ein Lied - für irgendwas! So heißt die CD mit Liedern des amerikanischen Komponisten Charles Edward Ives, die Gerald Finley und Julius Drake zusammen aufgenommen haben. Was hat Ives sich nur dabei gedacht, eines seiner Lieder so zu bezeichnen? Für irgendwas, egal was.
    Er war ein sehr eigenwilliger Komponist, eigentlich ein Versicherungskaufmann, der nur in seiner Freizeit Musik schrieb, unter anderem etwa 200 Lieder. Viele davon komponierte er auf sehr eigenwillige Weise. So, wie man Lieder auf keinen Fall komponieren sollte, seiner Meinung nach. Die Methode: Er ließ sich von einem Gedicht inspirieren, nicht selten von einem, das er selbst geschrieben hatte. Sodann vertonte er das Gedicht, und zwar für Kammermusik-Ensemble und – ein Soloinstrument! Den Text nämlich ließ er hinterher wieder weg. Er schuf, einzigartig in der Musikgeschichte, wortlose Textvertonungen. „The principal reason for this“, schrieb Ives in seinen autobiographischen Memos, „was, because singers made such a fuss about intervals, time etc. … when they were arranged later for voice and piano, they were weakened in many cases, also simplified – which I should not have done. This is no way to write a song – but it‘s the way I wrote some – take it or leave it, Eddy!“
    Ich kann nur sagen: Gott sei Dank wurden diese Lieder für Klavier und Singstimme re-arrangiert. Und hätte „Eddy“ Gerald Finley singen hören können, hätte er sich vermutlich weniger Sorgen um seine Lieder gemacht und wäre vielleicht von seinen seltsamen Umwegen abgekommen. Denn was Finley garantiert nicht macht ist: Aufhebens um irgendwas, Intervalle oder Rhythmus zum Beispiel; so etwas wie schwierige Intervalle oder komplizierte Rhythmen scheinen für ihn  nicht zu existieren. Aufhebens ist überhaupt ein Wort, das mir im Zusammenhang mit ihm niemals in den Sinn kommen würde.
Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit Gerald Finley, vor etwa zehn Jahren. Ganz ohne Aufhebens erschien er zur ersten Probe von Haydns Schöpfung im Wiener Musikverein mit Nikolaus Harnoncourt, sein charakteristisches unauffällig angedeutetes Lächeln in den Augen. Finley? Nie gehört. Und plötzlich: „Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde“. Ein paar Töne nur, und ich spürte, welch außergewöhnliche Sängerpersönlichkeit  ich vor mir hatte ( – im wahrsten Sinn des Wortes, denn ich stand direkt hinter ihm, im Chor).  Vom ersten Ton an elektrisierte mich diese Stimme, die Textur, die Stimme an sich. Doch nicht nur die Stimme an sich. Im Dritten Teil der Schöpfung nämlich verwandelte sich Gerald von Raphael in Adam, und so kam‘s zum Duett mit Eva, alias Sylvia McNair. „Holde Gattin, teurer Gatte“, ein (für Chorsänger) sich bis dato endlos hinziehendes, übertriebenes und unzeitgemäß scheinendes Schmachten. Doch hier stand unerwartet ein Adam, der so männlich war, dass er sich durchaus ein wenig echte Romantik erlauben konnte, und so geistreich, dass er über das Schmachten vermutlich ernsthaft nachgedacht hatte, so ernsthaft, dass es ihn am Ende erheiterte – angesichts einer kongenialen Eva, die mit souveräner und überlegener Weiblichkeit Adams humorvoll ernsthaftes Augenzwinkern hingebungsvoll zurückgab. Das verstaubte Duett jedenfalls geriet zu einem hinreißenden, ganz modernen Flirt. Ich war: entzückt. Ehrenwort. Und ich war sicher, dass dieser Adam und diese Eva den Haydn‘schen Humor exakt getroffen hatten.
    Ob er im Messiah die Trompeten des jüngsten Gerichts erschallen lässt oder uns ebendort das geheimste aller Geheimnisse erzählt, ob er auf der Opernbühne Mozarts zeitlosen Don Giovanni verkörpert oder einen hochaktuellen Zeitgenossen, den Doctor Atomic (alias J. Robert Oppenheimer) in John Adams‘ und Peter Sellars‘ gleichnamiger Oper, zur Welturaufführung bringt – er tut es stets verblüffend mühelos und ohne jedes Aufhebens. Seine profunde, voluminöse Bass-Stimme kann mühelos enorme Lautstärke entwickeln, Konzertsäle und Opernhäuser füllen, unaufgeregt, konzentriert, beherrscht, auf einem schier endlosen Atem. Sie kann schneidend, gewaltig, ja martialisch sein, im nächsten Augenblick wieder: sanft, samtig, zart. Diese Stimme ist Ausdruck einer Persönlichkeit, die von Energie getragen ist, von Poesie erfüllt und von geistiger Kraft durchwoben, eine Kombination, die in ihrer spannungsgeladenen Ambivalenz selten in ein und demselben Sänger zu finden ist. Doch genau diese Kombination macht seine Stimme so unverwechselbar; genau das verursacht diese atemberaubende Spannung beim Zuhören; genau davon bekommt der Zuhörer: Gänsehaut.
    Um die im Singen harmonisierte Widersprüchlichkeit von Gerald Finleys Persönlichkeit zu erleben, muss man nicht unbedingt zur Europa-Premiere von Doctor Atomic nach Amsterdam fliegen und anschließend nach Salzburg jetten, um seinen Grafen in Mozarts Figaro zu erleben und dann wieder nach Wien, um ihn in seiner Paraderolle Don Giovanni zu hören. Nein, es genügt durchaus, sich einen der Liederabende anzuhören, um die ganze Ausdrucksvielfalt Gerald Finleys zu erleben, konzentiert und en miniature. Lieder nehmen mittlerweile einen immer größeren Platz in seinem Sängerleben ein. Dabei hat der gebürtigen Kanadier, der seit seinem Studium am Royal College of Music und am King’s College mit seiner Familie in Großbritannien lebt, eine besondere Affinität zu nordamerikanischen Komponisten. Jüngst hat er mit Julius Drake eine CD mit Liedern von Samual Barber auf genommen, davor: A song – for anything.
    Das programmatische Lied schuf Ives speziell für die Kategorie „Sentimental Ballad“ als Illustration, ja Beweis dafür,  „how inferior music is inclined to follow inferior words“  – und umgekehrt. Das Rezept: Man nehme eine Melodie und drei Strophen, die keine Strophen sind, sondern irgendwelche Texte für irgendwas. Einen frommen Kirchentext – für ein Kirchenlied. Ein sentimentales Liebesgedicht – für ein Liebelied. Eine feierliche Studentenrede – für eine Ehrenhymne der Yale University.
    Ob Ives‘ Übung gelungen ist? Ob er damit tatsächlich den Beweis erbracht hat, dass ein schwacher Text schwache Musik nach sich zieht? Oder illustriert er damit nicht einmal mehr, was Schubert uns hundertfach  vor Ohren geführt hat, wie nämlich die Musik aus dem Text, wie immer gut oder schlecht er sein mag, auf wundersame Weise etwas unerklärlich Drittes macht, jenseits der Summe seiner Teile?

 

(© Sabine M. Gruber 2007)

 

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