Michaels Verführung - Leseproben


Kapitel 7

Als an einem anderen Tag, ein wenig später im Jahr, die Hausglocke ertönte, geruhte der Dichter zu öffnen und das Mädchen von Gegenüber wieder einzulassen. Denn in seinem Leben hatte sich viel Berichtenswertes zugetragen, und er verspürte den unwiderstehlichen Drang, dieses in der Tat jemandem aus Fleisch und Blut zu erzählen.
Oh – Helga, rief er aus, und konnte, während er den Namen aussprach, nicht umhin, erneut das Hausbackene ihres Namens zu bemerken, das ihn diesmal beinahe ein wenig gereizt stimmte; denn in Anbetracht des Korbes, den sie über dem Arm trug und in welchem sich unter einem rot-weiß-karierten Tuch allerlei Köstlichkeiten verbargen, erschien es ihm überdeutlich.
Die beiden ließen sich in der Küche nieder. Michael berichtete allerlei Lustigkeiten aus seinem neuen Leben im Reklamebureau Lämmer & Partner, während sie aßen und tranken, was Helga in ihrem Korb mitgebracht hatte: Wein und Kuchen. Helga hörte aufmerksam zu, und Michael streute der guten Ordnung halber in sein Erzählen beiläufig eine Frage über die Schneiderei ein, auf welche das Mädchen ausweichend antwortete.
Da fielen ihrer beiden Blicke auf das riesenhaft rote Papier auf der gegenüberliegenden Straßenseite; das Rot strahlte ein wenig weniger, das Weiß der Schrift war ein wenig angegraut, und jemand hatte versucht, Streifen herunterzureißen, wodurch das Plakat ein wenig mitgenommen aussah.
Ruhm ist vergänglich, Namenlosigkeit für immer, rezitierte der Dichter.
Das spricht für die Namenlosigkeit, sagte Helga.
Doch wohl eher für den Ruhm!
Michael, der etliche Semester das Studium der deutschen Sprache betrieben hatte, lächelte milde.
Liebe Helga, du mußt versuchen, dir vor Vergänglich ein Zwar und vor Immer ein Hingegen hineinzudenken, etwa so: Ruhm ist ZWAR vergänglich, Namenlosigkeit HINGEGEN ist für immer. Nennt man: ELLIPSE.
Dabei befleißigte er sich eines Tons, der sich von oben auf Helga herabließ und mir, noch ehe ich es verhindern konnte, aufs äußerste mißfiel.
Aha, sagte Helga ernst und kehrte ihr Lächeln nach innen. Und hast du auch schon einen eigenen Computer?
Einen Computer? Nein, Gott bewahre! In creativen Dingen bin ich altmodisch. Ich habe die alte Underwood von Onkel Julius, Gott-hab-ihn-selig, in die Agentur geschleppt. Herr Lämmer war der Bewunderung voll! Das Mechanische, verstehst du, ich muß das spüren, diese rein physische Anstrengung ist wichtig für den creativen Prozeß. Genauso wie das Geräusch, dieses Hämmern. Das Geräusch einer Computer-Tastatur ist im Vergleich dazu so … künstlich. Ja, künstlich! Ein Computer – da könnte ich mir gleich noch ein Handy zulegen, obendrein.
Du hast keines?
Nein!
Und wozu dann die Freisprechanlage?
Freisprechanlage?
Ja, im Auto – oder ist das nicht dein Auto, frage Helga, auf ein schwarzes Fahrzeug weisend, welches einen Gutteil des riesenhaft roten Papiers verdeckte.
Ach, sagte Michael und versuchte es beiläufig klingen zu lassen, ach das!
Dabei errötete er heftig, jedoch nur kurz. Denn schon kam ihm ein vortrefflicher Einfall. Niemand anderer als Helga konnte ihn dazu inspiriert haben, und er belohnte sie insgeheim mit Nachsicht ob ihres Namens und ihrer unbedarften Frage.
Du mußt wissen, fiel ihm alsbald ein, das ist nur eine andere Form von: Ellipse!
Ellipse.
Ja, sagte Michael, Ellipse.
Und der Einfall schien ihm plötzlich viel mehr als nur ein einfacher Einfall zu sein: er leuchtete in seinem Kopf auf wie eine Erkenntnis; und diese seine Erkenntnis gefiel ihm; sie gefiel ihm, während er sie als solche erkannte, sogar ganz außerordentlich und füllte ihn mit nicht wenig Stolz. Und sie drängte gegen die glatte Stirn, drängte voller Ungeduld aus ihr heraus.
Die Ellipse, mußt du wissen, ist das Grundprinzip des Werbens. Fast bin ich versucht zu sagen – die Ellipse ist des Werbens innerstes Wesen! Der Werber – meine Wenigkeit also, wenn du gestattest – nimmt einen Gegenstand und läßt alles weg, so lange, bis nichts mehr übrig ist, was er weglassen könnte.
Und wenn er sich irrt.
Wie jetzt … irrt.
Wenn er nach dem Weglassen merkt, daß es fehlt.
Wer.
Der Werber.
Was.
Es.
Michael runzelte die Stirn.
Ich meine, solltest du nicht eher das Freisprech-Mikrophon weglassen als das Telephon?
In Michael drohte mit einem Mal etwas aufzusteigen, das einem Erkennen glich und mit einem Gefühl von Scham verbunden gewesen wäre, hätte er es nicht im Keim erstickt.
Nein! Das wäre banal! Das wäre nicht creativ! Nimm zum Beispiel den Text, den ich zum Thema Zahnkaugummi geschrieben habe. Das ist das Thema einer Campagne, die ich kürzlich präsentiert habe. Erfolgreich, nebenbei bemerkt. Sehr erfolgreich. Schon als ich den Text zum ersten Mal niederschrieb, ließ ich die Hälfte von dem weg, was ich im Kopf hatte. Elliptisch.
Michael zog das Mädchen Helga mit sich ins Schlafgemach, wo er ihr das Geschriebene, welches er, wie ohne Absicht, auf dem Nachtkästchen liegen gelassen hatte, zur wohlgefälligen Lektüre überreichte, in feierlicher Bescheidenheit. Sodann, indes Helga zu lesen begann, artig erst, dann zunehmend vertieft, begann Michael, weil er verlegen und gespannt zugleich war, sie zu entkleiden. Er öffnete die Knöpfe ihrer zart geblümten Bluse, unter welcher sie kein Mieder trug, was den Dichter ermutigte. Über ihren zunehmend unbekleideten, und, wie ich weisungsgemäß ohne jegliche innere Anteilnahme zu bemerken versuchte, wohlgeformten Körper ließ er alsbald seinen Mund wandern; gelegentlich, wenn sich durch die Beschaffenheit des Ortes natürlicherweise die Gelegenheit bot, auch seine Zunge. Immer wieder jedoch warf er einen Blick auf das Gesicht des Mädchens, wie um darin zu lesen; doch war es nicht Vergnügen oder Lust, was er in dem Gesicht des Mädchens zu lesen hoffte; was er suchte und zu finden trachtete, war Zustimmung, ja Bewunderung über das von ihm Geschriebene; indes sein Mund leicht über eine der beiden ein wenig zu klein geratenen, reifen Himbeeren strich, sich schließlich öffnete, rundete und daran festsaugte, formten sich in seinem Inneren die bewundernden Worte, die das Mädchen finden würde, für das, was er geschrieben; und selbst Priapus, der sich nun allmählich aufrichtete, tat dies viel mehr aus Erregung über die kommenden schmeichelnden Worte, die sich über seinen Besitzer und damit auch über ihn ergießen würden, als aus Erregung darüber, daß und wie seine beiden Verbündeten, Mund und Zunge, glatte Haut berührten und sich in weiches Fleisch bohrten, um Vorbereitungen für eine andere Art des Ergießens zu treffen. Er konnte kaum an sich halten, und als nun das Mädchen endlich das Blatt beiseite legte und die erlösenden Worte: wirklich sehr creativ! sich über Michael ergossen, tat Priapus es diesen unverzüglich gleich.
Nur mit großer Mühe gelang es mir, das Gefühl des Erzürnens zu unterdrücken, das über mich kommen wollte. Verkehrung. Verschwendung. Versündigung!
Und das ist erst der Anfang! rief Michael. Die eigentliche Ellipse kommt erst. Die epigrammatische Essenz. Das Plakat!
Du durchstreichst nichts mehr.
In der Tat.
Warum?
Alles hat jetzt – einen höheren Zweck.
Und welchen?
Ist das denn wichtig?
Nein, sagte Helga, nein, das ist nicht wichtig. Und, fügte sie hinzu, hat es auch einen Sinn?
Was meinst du mit Sinn? Womöglich das Gegenteil von Unsinn! sagte Michael und lachte, denn sein Sinnspiel beglückte ihn.
Nein, ich meine Sinn als Gegenteil von Zweck.
Sinn oder Zweck – ist doch ganz einerlei, oder? Den Unterschied von Sinn und Zweck zu diskutieren ist doch völlig sinn- und zwecklos!
Als der Dichter sein Befremden ob Helgas, wie ihm schien, höchst unbedarfter Worte kundtat, war er von Gedankenstückwerk und Gefühlsfetzen erfüllt, welche ich nicht umhin konnte, mit Mißfallen zu bemerken. Durch sie hindurch erschallte laut Herrn Lämmers tiefes hohles Lachen und ein etwas höheres und helleres hohles Lachen, welches Michael auf die Schulter klopfte, während es Worte hervorbrachte, deren Bedeutung mir rätselhaft blieb. – G-g-geiler T-t-text, Mike-Zwei!! N-n-ur w-weiter s-so! – Dazu gesellte sich alsbald ein drittes anerkennendes Lachen, welches ein wenig hinterhältig heiser klang. – Guuut gemacht, Mike! – Vom Lob besonnt sah sich der Dichter in der Erinnerung bescheiden strahlen.
Der Zweck liegt im übrigen auf der Hand, ergänzte Michael, zu Helga gewandt, euphorisch: Aufklärung der Bevölkerung! Langfristige Verbesserung der Zahngesundheit!
Eine Initiative des Gesundheitsministers also.
Aber nein.
Gratisverteilung?
Da legte sich die erhabene Stirn des Dichters unmutsvoll in Falten.
Aber nein!
Er soll sich also verkaufen, der Zahnkaugummi?
Selbstredend soll er das! rief Michael aus, und seine Stimme hob sich kaum merklich, und sein Zeigefinger tat es ihm gleich: Aber der höhere Zweck des Plakats ist und bleibt – die Aufklärung.
In Michaels Kopf tauchten Bilder und Worte auf, die mir nicht wenig rätselhaft erschienen. Eine Kuh, deren Maul von einem durchscheinenden ballonartigen Gebilde beinahe zugedeckt ward, daneben das Wort. Kau! Dann ein Knabe, das Gesicht von einem ballonartigem Gebilde halb zugedeckt, auf dem Kopf ein seltsamer Hut; daneben die rätselhaften Worte: Kau, Boy! Sodann ein Mädchen, das Gesicht in gleicher Weise durch ein ballonartiges Gebilde halb abgedeckt, dazu die Worte: Kau, Girl! Und schließlich ein Mann, dessen Gesicht sich in ebensolcher Weise hinter einem ballonartigen Gebilde versteckte, wozu die Worte geschrieben standen: Kau, Mann! Und indes die seltsamen Bilder und Worte übereinander her und in sich zusammen fielen, keimte in dem Dichter Ungeduld auf, die er zügelte, indem er rasch zu dem blonden Mädchen sprach.
Komm mit, ich zeig‘ dir die Tscharts. Dann verstehst du es vielleicht, vielmehr: vielleichter!
In diesem Augenblick erst gewahrte er den vollkommen unbekleideten Zustand des, wie ich abermals ohne innere Anteilnahme festzustellen versuchte, überaus wohlgeformten Mädchenkörpers; desgleichen gewahrte er seine eigene Angezogenheit, die dazu in Widerspruch zu sein schien; genau dieser Widerspruch jedoch versetzte ihn nun in einen seltsamen Zustand der Erregung. Er zog das Mädchen mit sich ins Schöne Zimmer und hieß sie auf dem Sofa Platz nehmen. Auf ihren Schoß legte er sodann einen Stapel schwarzer Pappkartons, die mit jenen seltsamen Bildern beklebt waren, welche ich zuvor in Michaels Kopf gesehen hatte.
Sehr creativ, sagte das Mädchen ernst, aber wo bleibt die Aufklärung?
Links unten, murmelte der Dichter – etwas undeutlich und nachsichtig, weil sein Mund sich, wachsend erregt, an einer ihrer beiden Himbeeren gütlich tat: Initiative blablabla zur Förderung der Zahngesundheit.
Ein bißchen klein, oder?
Klein? entrüstete sich da der Dichter und sein Mund ließ von der Himbeere ab. Der Kunde wollte es noch viel kleiner, und Marc hätte es am liebsten überhaupt nur in Fünf-Punkt-Schrift gehabt. Klein. Ha! Wenn du wüßtest, was mich dieser kleine Unterschied an Überredungsarbeit gekostet hat.
Helga betrachtete eine Weile schweigend die Tscharts.
Wer ist Marc?
Mein Artdirektor.
Eine weitere, ein klein wenig längere Weile betrachtete Helga die bunten Bilder, ehe sie sagte: Hast du jemals versucht, mit Zahnkaugummi so eine Riesenblase hinzukriegen?
Glaubst du denn, das auf dem Plakat ist wirklich Zahnkaugummi? Du bist vielleicht naiv! entfuhr es dem Dichter.
Das ist aber eine Täuschung, stellte Helga fest.
Täuschung? Nein! Das siehst du ganz falsch. Es ist nur so: Die Wirklichkeit ist manchmal nicht genug – wirklich, verstehst du.
Also bläst du die Wirklichkeit ein bißchen auf.
Da wurde Michael böse. Böse und ungeduldig zugleich.
Du verstehst gar nichts! Ich mache die Wirklichkeit nur – wirklicher!
Und auch dieser Einfall schien ihm plötzlich viel mehr als nur einfach ein Einfall zu sein: er leuchtete in seinem Kopf auf wie eine Erkenntnis; und seine Erkenntnis gefiel ihm; sie gefiel ihm, während er sie als solche erkannte, sogar ganz außerordentlich und erfüllte ihn mit nicht wenig Stolz; zugleich erfüllte sie ihn mit ein wenig Nachsicht Helga gegenüber, welche, und daran hegte er keinerlei Zweifel, ihn zu dieser Erleuchtung inspiriert hatte, durch ihre – und das erschien ihm in höchstem Maße seltsam – unbedarften Worte und Gedanken.
– Ich mache die Wirklichkeit wirklicher! –
Wieder und wieder leuchtete seine Erkenntnis in ihm auf. Er wendete sie und drehte sie, vorsichtig, damit sie sich nicht verändern oder gar in Frage stellen konnte, er berauschte sich an ihr, und in das Berauschtsein mischte sich ein seltsames Gefühl von Macht. Er betrachtete die Spitzen der Mädchenbrüste, und sie erinnerten ihn an reife Himbeeren, jedoch erschienen sie ihm zu wenig rot, zu wenig himbeerrot, und er stellte sich vor, die Wirklichkeit ein wenig wirklicher zu machen und sie ein wenig himbeerröter anzumalen. Entschlossen legte er das Mädchen, welches immer noch in das Bild mit der Kuh vertieft zu sein schien, der Länge nach auf das Sofa und bemerkte entzückt, wie ihr Haar, von seiner Phantasie beflügelt, weizenblond über die Armstütze floß, wenn er es nur ein klein wenig in die Länge zog und ein klein wenig aufhellte; wie sich die Haut makellos bronzen vom samtenen Blau abhob, wenn er sie nur ein klein wenig bräunte und die Sommersprossen, welche in verschiedensten Schattierungen von Braun da und dort das Makellose störten, wegradierte; und wie ihre Augen blitzten, Saphiren gleich, wenn er sie nur ein klein wenig bläute. Nun lag sie vor ihm, mit ihrem langen blonden Haar, den hellblauen Augen, dem makellosen Teint und den himbeerroten Spitzen, und mit Wohlgefallen betrachtete er sein Werk. Da fand er es nur recht und billig, es zu vollenden; ihre Brüste ein klein wenig kleiner zu formen, ihre Hüften ein klein wenig zu schmälern und ihre Beine ein klein wenig in die Länge zu ziehen. Abermals betrachtete er sein Werk; und er sah, daß es gut war. Und er dachte bei sich: Genau so hätte Gott sie geschaffen, hätte er einen wirklich guten Tag gehabt! Er konnte nicht an sich halten, über seine treffenden und originellen Worte mächtig zu grinsen. Und in seinem Kopf tauchte ein zweites grinsendes Gesicht auf, das Marc hieß und sich bei seinen treffenden Worten auf die Schenkel klopfte.
Etwas drohte über mich zu kommen, etwas, das dem Gefühl von Zorn aufs Haar glich.
Michael indessen, und es fiel mir von nun an schwer, mich seines Namens nicht zu schämen, war so erregt ob seiner neu entdeckten Macht über die Wirklichkeit, daß er sich, ohne sich mehr als unumgänglich notwendig auszukleiden, auf das Mädchen legte und sich zum zweiten Mal ergoß. Beinahe wäre das Gefühl von Zorn vollends über mich gekommen, doch da gewahrte ich, was in Helga vor sich ging, während all dies geschah, und ich unterdrückte mit Mühe ein Lächeln, das den Zorn von mir abwendete. Michael jedoch, nachdem er seine Verrichtung zu Ende gebracht hatte, begann nun darüber nachzusinnen, was seinem Geschöpf zur Vollkommenheit noch fehlen mochte. Jäh durchfuhr ihn die Erkenntnis: Ein Geschöpf, welches aussah, wie Gott es erschaffen hätte – hätte er einen wirklich guten Tag gehabt, wohlgemerkt ha, ha, – konnte nicht Helga heißen!
Sag‘ doch einmal, Helga, ward dir nicht ein zweiter Name gegeben, als du das Licht der Welt erblicktest? Nicht, daß ich Helga nicht ganz entzückend fände … sagte Michael, und ich wünschte mir, ihm würde augenblicklich eine sehr lange Nase wachsen.
Ja, aber weißt du, in meiner Familie gibt es immer schon diesen Tick – alle Vornamen müssen mit einem H anfangen –
Michael fing an zu beten: mein Gott und alle Heiligen, laßt sie nicht Hermine heißen! Hanneliese, Heidegunde, Hildegard oder – Hyazinthe!
Und sein Gebet wurde erhört.
 – und so ist mein zweiter Name –
Ja?
Huberta.
Huberta!
Huberta. Helga Huberta. Schön, nicht? sagte Helga Huberta ernst, kehrte ihr Lächeln nach innen und weidete sich an dem Entsetzen, welches Michael mühsam zu verbergen suchte. Und mühelos unterdrückte sie ihre schwache Regung zu gestehen, daß ihr noch ein dritter Vorname gegeben ward, als sie das Licht der Welt erblickte, einer, der keineswegs mit H anfing und den Dichter wohl in der Tat entzückt hätte. Er hätte mich, das gestehe ich, gleichfalls entzückt, wäre ich dazu befugt. Jedoch hätte mich, auch das muß ich gestehen, alles an Helga Huberta entzückt, wäre ich nur dazu befugt gewesen.
Sehr schön! Klingt irgendwie so – edel, rang sich der Dichter durch zu sagen, während in seinem Kopf zu dem Namen Huberta eine Schar von kichernden, ganz in Grün gekleideten Wäscheverkäuferinnen auftauchten, welche ihn bisweilen umschwirrten, auf den Stiegen des prächtigen Zinshauses, in dem sich auch das Reklamebureau Lämmer & Partner befand; jene grünen Mädchen, welche, Nonnen gleich,  ihren weltlichen Namen ablegen mußten, um – einem höheren Zweck dienend, von der Sündhaftigkeit der Wäschestücke ablenkend und gleichzeitig sich selbst verleugnend – gottergeben neue Namen anzunehmen, der keuschen, knieumspielenden Länge ihrer grünen Kleider gemäß: Frau Josefa, Frau Maria, Frau Annelies, Frau Waltraud.
Huberta war zwar nicht weniger hausbacken als Helga, jedoch, fand Michael schließlich, war Huberta ungleich origineller. Huberta machte sogar etwas her. Wenn man es genau betrachtete, war Huberta sogar: singulär!
Nun denn, verehrteste Huberta, sagte Michael und kniete sich, noch immer angezogen, vor das blausamtene Sofa hin, auf welchem, noch immer unbekleidet, das Mädchen lag. Wie wäre es, wenn wir uns Tee kochten!
Helga kleidete sich an, kochte Tee, brachte dem Dichter eine Tasse ins Schlafgemach, wohin er sich huldvoll zurückgezogen hatte und verließ alsbald das Haus. Nachdem sie gegangen war, begab sich der Dichter unverzüglich in die kleine Kammer neben dem Schlafgemach und schloß die Kammertür mit Sorgfalt ab, einmal und zweimal. Noch weit nach Mitternacht drang Licht durch das schmale Fenster zu mir herüber.

 

Kapitel Neun

 


Und so kam jene Zeit des Jahres heran, da sich die Natur allmählich zur inneren Einkehr
zurückzieht; da sie mitsamt ihren bunten Kleidern allen Stolz abwirft, damit dieser
nicht zur Hoffart gerate, jene Zeit also, da das Gras zu wachsen aufhört; da die Wärme
der Kälte, die Üppigkeit der Kahlheit, die Klarheit dem Nebel und das Licht der Finsternis
weichen muß, damit das Sein sich seines Nichtseins besinnen und wieder zu sich selbst zurückzufinden
vermag. Wenn diese Zeit über mich hereinbricht, erfüllt mich stets etwas,
das stiller Ehrfurcht gleicht.
Doch nun, da die Zeit abermals gekommen war, erfüllte mich diese Ehrfurcht nicht.
Eine seltsame Unruhe kam statt dessen über mich. Denn es begab sich, daß die Natur die
innere Einkehr verweigerte.
Die Klarheit wich dem Nebel nicht und das Licht trotzte der Finsternis: die Sonne
saugte gierig den morgendlichen Dunst auf und kostete ihr Strahlen bis zur Neige, indes
der Mond den Nachtnebel bezwang und der Finsternis Herr zu werden trachtete. Die Üppigkeit
wich nicht der Kahlheit und die Wärme nicht der Kälte; das Gras hörte nicht auf zu
wachsen, und die Bäume schienen zum immerwährenden Grünen entschlossen; sich ewig
jung wähnend, grünten sie stürmisch und später noch, als ihnen zu grünen erlaubt war;
und da sie endlich nicht mehr grünen konnten, nahmen sie grellbunte Farben an; grell
gelb und grell orange und grell rot; greller als es ihnen zukam; und sie klammerten sich
an die Zweige und weigerten sich abzufallen. Es stand mir nicht zu, über dieses seltsame,
zur Unzeit tolle Treiben der Natur ein Urteil zu fällen, doch ich gestehe, ich konnte nicht
umhin, das Rascheln zu vermissen. Das Rascheln nämlich blieb aus, das kahle Rascheln
der sterbenden Blätter, die von Bäumen fielen, auf Wiesen und gekieselte Wege und
Pflastersteine. Klein und hoch raschelten sie zuerst, dann hell und rollend jung und
schließlich groß und dumpf und hohl, alt und humpelnd. Auch vermißte ich das gefaßte
Rascheln der auf dem Baum zurückgebliebenen Blätter, die spürten, daß nichts sie vor
dem drohenden Zubodenfallen retten konnte.
Der Blutahornbaum über mir klammerte sich an seine Blätter, und die Blätter klammerten
sich an ihn; die Sommerlinde sonnte sich hoffärtig in jugendlichem Gelb; und die
Trauerbirke in ihrem Efeubett vor dem Haus vergaß zu trauern; sie leuchtete grell orange,
fast rot, als wollte sie mit dem Plakat auf der gegenüberliegenden Seite wetteifern, ja
als wollte sie es ihm gleichtun. Ich war versucht zu fluchen.
Auf dem Plakat nämlich leuchtete rot ein hohler Kürbis, lichtdurchflutet; darein war
eine lustige Fratze geschnitten und rund um ihn schwarze Nacht gemalt.
Über dem hohlen Kürbis stand geschrieben:
Gedanken zum Erfolg, Nr. 80
Und neben dem hohlen Kürbis:
DER GEIST DES ERFOLGES IST ÜBERALL
Der Kürbis war nicht allein. Der Kürbis war allgegenwärtig. Allerorten, in allen Größen
und Formen standen sie, weithin sichtbar in Gärten, auf Zäunen und Mauern, die
Kürbisse, darein lustige Fratzen geschnitten waren und darin nächtens Kerzen brannten,
wie um den unförmigen, ausgehöhlten Leibern Leben einzuhauchen. Die Menschen, welche
vor dem Dichter das Haus bewohnt hatten, pflegten zu dieser Zeit des Jahres zu Ehren
aller Heiligen und aller Seelen zwei Grablichter auf das Tor im Garten zu stellen, welches,
ganz aus der Mitte geraten, von nirgendwoher nirgendwohin führte. Nun jedoch
standen an Stelle der Grablichter zwei Kürbisse, in deren ausgehöhlten Leibern nächtens
Kerzen brannten, und ich muß gestehen, daß ich mich belästigt fühlte; erst um der Kürbisse
willen, welche, lustig gefratzt, allen Heiligen und allen Seelen Hohn lachten, und
dann der Kerzen wegen, welche, mit elektrischem Strom entzündet, mich blendeten und
meine Ruhe störten.
Zwei Stimmen drangen durch das spaltbreit geöffnete Fenster des Schlafgemachs zwei
Stimmen und ein Schein von Kerzenlicht.
Wozu wollt ihr euch denn verkleiden?
Weil es Spaß macht, liebste Huberta! Ich mache eine Halloween-Party, weil es Spaß
macht.
Eben hast du mir doch noch von dem tiefen Sinn erzählt, von dem uralten keltischen
Brauch, vom Geist der Toten, die in ihre Häuser zurückkehren, sagte Helga.
Und sie trat ans Fenster, um es weit zu öffnen.
Ach Huberta. Ich liebe deine Ernsthaftigkeit. Du und dein tiefer Sinn! Ein tiefer Sinn ist
ja recht und schön – aber so tief unten sieht ihn doch keiner!
Mike, der Dichter, hielt inne, denn er hatte einen Einfall. Und dieser Einfall schien ihm
plötzlich viel mehr als einfach ein Einfall zu sein: er leuchtete in seinem Kopf auf wie eine
Erkenntnis, und diese gefiel ihm.
– Den tiefen Sinn an die Oberfläche bringen! –
Die Erkenntnis gefiel ihm, während er sie als solche erkannte, sogar ganz außerordentlich.
Sie erfüllte ihn mit nicht wenig Stolz, und es drängte ihn, sie kundzutun. Seine
Stimme klang ein wenig feierlich, als er sagte:
Den tiefen Sinn an die Oberfläche bringen, das ist unsere Aufgabe. Damit ihn jeder sehen
kann … und jede, fügte er ohne nachzudenken hinzu, indes er einen kleinen Kürbis,
der auf einem Stiel steckte, aus einem Stückchen Papier wickelte, auf welchem ein Kürbis
aufgemalt war. Solcherart entpuppte sich das Papier als der eigentliche Kürbis, während
der vermeintliche Kürbis in Wirklichkeit eine weißliche Zuckerkugel war, die Mike sich in
den Mund steckte. Wohlgefällig lag sein Blick auf Hubertas in die Länge gezogenem, weizengeblondetem
Haar, auf der makellos gebräunten Haut, auf den geschmälten Hüften
und den langgezogenen Beinen.
Huberta.
Sagte Mike, um sie vom Fenster ab und zu sich zu lenken. Gebannt sah er ihre gebläuten
Augen blitzen, Saphiren gleich, über ihren Brüsten von genau mittlerer Größe mit den
himbeerroten Spitzen. Doch da sein Blick über ihre nackten Arme wanderte, blieb er an
den blonden Härchen hängen, welche er dort nie zuvor bemerkt hatte; desgleichen an einer
Haut, welche ihm, was ihn befremdete, mit einem Mal der Haut einer gerupften Gans
zu ähneln schien.
Huberta! So mach doch bitte das Fenster zu! Du frierst ja!
Helga tat, wie ihr geheißen, und zu Mikes Erleichterung sank die Gänsehaut allmählich
in sich zusammen, ohne Spuren zu hinterlassen; die Härchen sträubten sich nicht länger
und legten sich; jedoch waren sie noch immer da! Sie verunzierten ihre makellos glatte
Haut. Und so hieß er seine Phantasie den blonden Härchen Flügel verleihen, so daß sie
mitsamt der Gänsehaut spurenlos verschwinden konnten; und weil er nun einmal gerade
dabei war, den Körper des Mädchens zu vervollkommnen, stutzte er auch noch die Haare,
welche ihre Scham bedeckten, ein klein wenig zurecht, denn sie erschienen ihm ungeordnet,
und hellte sie etwas auf, damit sie vollkommen zum weizengeblondeten Haupthaar
passte.
Wie das Mädchen nun vor ihm stand, in makelloser Schönheit, ergötzte ihr Anblick
ihn über die Maßen, und zum Schöpferstolz gesellte sich der Stolz des Besitzenden. Damit
seine Phantasie ihm keinen Streich spielen und sein vollkommenes Werk zunichte machen
konnte, verbannte er das Licht aus dem Schlafgemach und hieß das Mädchen die
Kerze ausblasen. Der Anblick des makellosen weiblichen Körpers, welcher eine Kerze
ausblies, erregte ihn nicht wenig.
Als jedoch der Körper des Mädchens sich neben ihm auf der Bettstatt niederließ, trat
der volle Mond hinter einer Wolke hervor und schien durchs Fenster und warf sein Licht
auf den Dichter selbst. Kalt und erbarmungslos leuchtete er, durch das dichte Gewebe
von Michaels schwarzem Gewand hindurch, bis in jenen dunkel verborgenen Winkel seines
Herzens, in welchem Furcht, Unsicherheit und Scham schlummerten. Und als der
phantastisch geschönte Körper des Mädchens sich nun dem seinen näherte und sich anschickte,
diesen zu entkleiden, wurde sich dieser ganz plötzlich seiner eigenen Unvollkommenheit
gewahr und sträubte sich, entblößt zu werden. Der Dichter schloß die Augen
und bemühte seine Phantasie, doch fühlte er, wie sie an seinem eigenen Körper jämmerlich
versagte. Ein Gefühl der Ohnmacht stieg in ihm auf und begann sich unerbittlich
auszubreiten; dann wollte das Gefühl gar eine Erkenntnis werden; doch die Erkenntnis
wollte ihm nicht gefallen, und er hieß sie in das Gefühl der Ohnmacht zurücksinken. Dem
Ohnmachtsgefühl jedoch gebot er Einhalt, indem er die Augen öffnete, sich seine Macht
über den Mädchenkörper bewußt machte und seine Ohnmacht damit sorgfältig zudeckte.
Sodann gestattete er dem Mädchenkörper gnädig, Priapus aus der Enge seines Gefängnisses
zu befreien, schloß abermals die Augen und befahl seiner Phantasie, zu dem makellosen,
eine Kerze ausblasenden weiblichen Körper zurückzufliegen: als wäre der Mond
nie hinter seiner Wolke hervorgetreten, so, als wäre nie der Strahl einer Erkenntnis in den
hintersten Winkel seines Herzens gefallen, überließ er sich dem makellosen Mund des
makellosen Mädchenkörpers und ergab sich dem Gefühl der Befriedigung, welches dieser
Mund in seinem Körper hervorzurufen vermochte. Die Leere jedoch, welche er gleich darauf
spürte, füllte er eifrig mit munteren Worten.
Kann doch für eine Schneiderin keine Hexerei sein, ein paar geistvolle Gewänder für
eine Halloween-Party zu nähen!
Nein, sagte Helga, für eine Schneiderin ist das kein Problem.
Ich brauche so deren – na sagen wir: zehn bis fünfzehn.
Helga starrte in die Dunkelheit. In ihren Schläfen pochte es; durch ihren Kopf ratterte
es; es ratterte die betagte Nähmaschine, welche sie von ihrer Großtante Hermine geerbt
hatte und welche der Nähmaschine in des Dichters Schlafgemach aufs Haar glich. Alsbald
jedoch ging das Rattern in das leise Schnurren und Surren des modernen Nähapparates
über, welcher ihrer Freundin Hilde gehörte, die wiederum in der Tat das Handwerk der
Schneiderei erlernt hatte.
Gut, sagte am Ende Helga. Soll ich früher kommen, oder genügt es, wenn ich sie zur
Party mitbringe?
Mitbringe?
Mike starrte in die Dunkelheit. In seinen Schläfen pochte es, denn durch seinen Kopf
dröhnte etwas, das Lachen hätte sein können, doch es war kein Lachen, kein gutes Lachen,
kein Lachen, das aus Lächeln geboren wird; es war Lachen, das die Verachtung gebiert:
Gelächter; erst war es nur Marcs Gelächter, das Gelächter des Artdirektors, und es
weckte in mir die Erinnerung an eine Geiß oder vielmehr einen Geißbock. Doch im Gelächter
des Geißbocks dröhnten alsbald noch andere Gelächter, die Geräusche verschiedener
anderer Tiere in mir wachriefen. – Hu, hu, hu – Huberta –. Das verächtliche Gelächter
färbte Mikes rosige Wangen dunkelrot. – Huberta, ist ja schon originell, aber – Huberta,
die Schneiderin! Unser Mike hat eine Schneiderin namens Huberta, huuu … – Dazu tauchten
in Mikes Kopf die Gesichter auf, aus denen die Gelächter dröhnten, und sie erinnerten
mich ein wenig an die Fratzen, welche man in die Kürbisse geschnitten hatte und mit Hilfe
von elektrisch betriebenen Glühkerzen erleuchtete.
Nein, Huberta, dieses Opfer verlange ich nicht von dir! Es ist schon genug, wenn du
das Nähen der Gewänder auf dich nimmst, du mußt dir nicht auch die Party geben, sagte
Mike mit Festigkeit und mit allem gebotenen Ernst. Vielleicht bringst du sie einfach vorbei,
die Gewänder, wenn du Zeit hast? fügte er rasch hinzu. Der Schlüssel liegt in der Nische
neben der Kellertür.
Helgas Gesicht, vom vollen Mond beschienen, blieb beinahe regungslos, nur ihr Mund
zuckte ein wenig; so, als wollte sie etwas sagen; jedoch – sie sagte nichts.