"Im Jahr 2010 veröffentlichte der Postdamer Romanist Ottmar Ette einen programmatischen Aufsatz, in dem er die zusehends in Legitimationsnot geratene Literaturwissenschaft gesellschaftlich neu zu positionieren suchte. Er tat dies, indem er die im Verlauf der Postmoderne fragwürdig gewordene Welthaltigkeit der Literatur wieder herstellte, um sodann für eine „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“1 zu plädieren. Die mit der sanften Wucht eines essayistischen Paukenschlags eingeläutete Wende in der Literaturwissenschaft propagierte mithin die Rückkehr zu einem Literaturverständnis, das vom nichtprofessionellen Leser ohnedies nie infrage gestellt wurde: dass uns die Literatur nämlich etwas über die ‚Realität‘ lehrt. Roland Barthes, der sich in Frankreich der Erforschung der Zeichenhaftigkeit von Texten widmete, äußerte bereits 1967 die Ansicht – von der der Laie intuitiv wusste: „[...] es gibt ganz gewiß keinen einzigen wissenschaftlichen Gegenstandsbereich, der nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Weltliteratur behandelt worden wäre: Die Welt des Werkes ist eine totale Welt, in der das ganze (soziale, psychologische, historische) Wissen seinen Platz findet [...].“2

Diese „totale“ und im besten Fall glaubwürdige, das heißt überzeugende Text-Welt, die Schriftsteller mit den verschiedensten Erfahrungshintergründen ihren Lesern anzubieten wissen, ist – und hier könnte die Literaturwissenschaft zu Wort kommen – allerdings zugleich eine ganz und gar künstliche, zumal sie ‚nur‘ auf dem Papier Bestand hat. Ich werde mich also bei meiner kurzen Einführung nicht auf eine biografische Spurensuche begeben, sondern vielmehr die Faktur eines mit Beziehungsreise überschriebenen Romans von Sabine M. Gruber darzustellen versuchen.

Im Zentrum der Handlung stehen die Protagonisten Sophia Meier, eine Schriftstellerin, die sich als Ghostwriter verdingt, und der Bibliothekar sowie ambitiöse Kritiker Dr. Marcus Hahse. Sophia, die Mutter eines Sohnes ist, unterhält mit ihrem Gatten Georg eine so genannte offene Zweierbeziehung, während der geschiedene und nun als Single lebende Marcus regelmäßig Wochenenden mit seiner Tochter verbringt.

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(1)
Geisteswissenschaften, in Wolfang Asholt und Ottmar Ette (Hg.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft.

Ottmar Ette, Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen: Narr 2010, S. 11–38.

(2) Roland Barthes, De la science à la littérature [1967], in ders., Le Bruissement de la langue. Essais critiques IV, übers. von Ottmar Ette, Paris: Seuil 1984 (= Points Essais 258), S. 11–19, hier: S. 11f.

 

Erzählt wird die sich über zehn Jahre erstreckende Geschichte achronologisch vom Ende bis zum Anfang. Ausgehend vom finalen Zerwürfnis im zehnten Jahr werden die Hintergründe einer ungewöhnlichen Beziehung geschildert, die im Wesentlichen aus Trennungen besteht. Einen Abend pro Woche und gelegentliche Anrufe gesteht der um seine Zeit geizende Marcus seiner Freundin zu, die in Wahrheit Geliebte sein will und mit der er Kurzurlaube unternimmt, bei denen die kulturelle Komponente im Vordergrund zu stehen hat. Von den österreichischen Bundesländern über Italien, Island, die Türkei, die Slowakei, Rumänien, Portugal bis nach Ungarn usw. reicht der Aktionsradius dieses seltsamen Paares, das im Rhythmus von Marcus‘ Neurosen ‚funktioniert‘.

Eigentlich genügt sich Marcus, der davon träumt, ein renommierter Rezensent zu werden, selbst, wenngleich er den Zerstreuungsfaktor von Sophias Präsenz auf seinen einsamen Reisen zu schätzen weiß. In Wahrheit möchte der Kritiker geliebt und in Ruhe gelassen werden, womit sich die Austausch und Zuneigung einfordernde Sophia freilich nicht abfinden mag. Sie ist nämlich davon überzeugt, dass es gelingen kann, den beziehungsgestörten Partner, der eigentlich keiner sein will, aus seiner emotionalen Erstarrung zu lösen. „Sophias Beziehungen sind grundsätzlich auf ewig angelegt. Seine eigentlich nicht“ (S. 100), teilt die personale Erzählerin vielsagend mit. Beide sind freilich der permanenten Belastungsprobe nicht gewachsen. Sophia begibt sich schließlich in Therapie, um an sich zu klären, woran er krankt. Je mehr die Frau indes gibt und schenkt, desto stärker fühlt sich der Mann, dem Schenken und Geschenke zuwider sind, bedroht und bedrängt. Erst nachdem er sie vergewaltigt hat, bricht die erschütterte Liebhaberin aus diesem asymmetrischen Verhältnis aus.

Wer meint, Beziehungsreise nach dieser ersten Lektüre gelesen zu haben, irrt, denn bei näherem Hinsehen eröffnen sich weitere Perspektiven, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte. Die fiktionale Beziehungsgeschichte ließe sich ebenso dem Genre des Schriftstellerromans zuordnen, da ja die Hauptfiguren beständig lesen, schreiben, über Bücher reden und als Autoren sogar Honorare verdienen. Sophia, die, nachdem sie Drohbriefe von einer gleichnamigen Schriftstellerin erhalten hat, nur mehr anonym als Ghostwriter Auftragstexte verfasst, träumt davon, wieder unter ihrem Namen Literatur zu veröffentlichen. Marcus hingegen, den Sophias Talent irritiert, weigert sich, ihre Manuskripte zu lesen, und verirrt sich lieber in Charlotte Roches Feuchtgebieten oder anderen bestsellerverdächtigen Werken. Marcus, der wie die meisten Rezensenten Bücher nur anliest, kann es vermutlich nicht verwinden, dass er als literarischer Parasit von den schriftstellerischen Produkten anderer Schreibender lebt, ohne selbst je ein Buch zu verfassen. Seine Existenzberechtigung gründet auf der Tatsache, dass er talentiertere Autoren als sich selbst in den Himmel lobt oder vernichtet und sich dabei medial in Szene setzt. Überrascht es uns daher, dass sich der promovierte Germanist, der täglich mit so genannten selbstständigen Publikationen zu tun hat, als überqualifizierter Bibliothekar langweilt? Und handelt er nicht folgerichtig, indem er sich als Rezensent eine Art von Ruhm zu erwerben sucht, wiewohl er insgeheim ahnt, dass er dazu verdammt ist, einer mehr und mehr den Gesetzen des Marktes unterworfenen Branche literarische Werbetexte zu liefern? Und weiß er nicht, dass er als Rezensent die Macht besitzt, Vergeltung zu üben an jenen, die wie Sophia die Kunst des Geschichtenerzählens noch beherrschen?

Sophia hingegen ordnet sich nicht nur als Frau und Geliebte unter, sondern auch als Schriftstellerin. Ihre Hoffnung, nach dem Erscheinen ihrer preisgekrönten Erzählung einen Roman zu schreiben und vielleicht sogar ein Stipendium zu bekommen, zerschlägt sich, weil sie angeblich „den Ruf dieser Sophie Meyer mit ie und Ypsilon“ (S. 88) schädigt. Daran gewöhnt, Wünsche aufzuschieben, gründet sie nach der Entlassung aus einer PR-Firma eine Ghostwriting-Agentur. Ähnlich wie Marcus sieht sie ihre Berufung und Erfüllung in der Literatur, der sie sich zum Unterschied von ihm nicht mit der gleichen Ausschließlichkeit widmet.

Sabine M. Grubers Beziehungsreise erzählt vom Werben um die Liebe und der Liebe zur Literatur, die sich in zahllosen Intertexten Bahn bricht. Auszüge aus Hotelbroschüren, Reiseführern, Briefen, aus einem Opern- und Liedtext, einem psychologischen Ratgeber, einem Roman, einem Kochrezept etc. werden neben Buchtiteln und Autoren kursiv gesetzt und in den Fließtext montiert. Als Teil eines unendlichen Verweissystems von Zeichen knüpft Grubers Roman an vorgängige Texte an, entführt uns auf literarische Nebenschauplätze und erzeugt zitierend neue Wirklichkeiten, die dem Rezipienten zur Decodierung anheimgestellt wird.

 

Beziehungsreise präsentiert sich allerdings nicht nur als Liebesroman, den wir mechanisch an allen uns bekannten einschlägigen Geschichten – auch den selbst erlebten – messen und dergestalt auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen, wiewohl wir wissen, dass Literatur zu keiner anderen Wahrheit als jener der Wahrhaftigkeit eines künstlerischen Artefakts verpflichtet ist. Wir haben es, wie gesagt, auch mit einem Schriftstellerroman zu tun, der uns eine weitere Sinn- und Textebene offenbart. Wenn wir diesen Roman unter dem Gesichtspunkt der darin dokumentierten und mit den touristischen Details versehenen Reisen betrachten wollen, dann ließe sich eine Beziehungsgeografie mit Namen von Städten, Bundesländern und Staaten erstellen, eine Landkarte also, über deren Zentrum und deren Ränder nachzudenken und Vermutungen anzustellen wären. Wir würden in den Plätzen und Ortsnamen, den Namen von Hotels und Straßen unsere eigene Beweglichkeit und Unruhe wiedererkennen und uns auf diese Weise einen Teil unserer Vergangenheit in Erinnerung rufen. Ja, wir würden uns bei dieser detektivischen Lektüre ertappen, unsere Geschichte – ob sie nun aufgeschrieben ist oder nicht – fortzuspinnen, uns den Roman, den Text gewissermaßen anverwandeln, um in ihm gelebte oder nichtgelebtes Dasein, also unser Episoden- und Bruchstückhaftes selbstvergessen fort- und weiterzuspinnen.

Grubers jüngster Roman handelt eben von diesen Träumen, mit denen ihre Figuren narrativ aufgeladen worden sind, um die Fantasie einer Leserschaft, von deren Zusammensetzung und Anzahl die Autorin nichts ahnt, geschickt anzuregen.

Mit den Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft ließe sich diese meisterhaft konzipierte Beziehungsreise – auch Marcus ist von Sophias bis ins Detail geplanten Reisen beeindruckt – aus der Gender-Perspektive betrachten und über geschlechtsspezifische Zuschreibungen reflektieren. Desgleichen könnte ein psychoanalytischer Ansatz das Psychogramm und Krankheitsbild eines gewissen Dr. Marcus Hahse in den Fokus nehmen und analysieren. Ebenso wäre in poetologischer und narratologischer Sicht auf das berückende Spannungsverhältnis zwischen dem Ausgang des Romans, der dem Leser gleich zu Beginn mitgeteilt wird, und der Ahnungslosigkeit der Figuren einzugehen, die sich in jedem Kapitel in unzähligen Fragezeichen und der vorausschauenden Eleganz von Futur und Futur Perfekt niederschlägt.

 

Die poetische Dimension, die nicht ohne ihre souveräne handwerkliche Grundierung gedacht werden darf, wäre schließlich erst über die Zahl der potenziellen Lesarten und also Geschichten zu ermitteln, die ein sprachliches Kunstwerk als ästhetisches Produkt in Gang setzt und ermöglicht. „So trägt der schnelle Zug mich wieder heimwärts. Die Reise ist zu Ende,“ lautet ein Auszug aus Ernst Kreneks Reisebuch aus den österreichischen Alpen, der diese Grubers jüngste Prosa abschließt, die sich nun als Buch ihrerseits auf die Reise begibt und wer weiß über welche Stationen führen wird."


(Einführung zur Lesung auf Schloss Sierning, November 2012)