Der Schmetterlingsfänger - Leseprobe

Glauben Sie an Zufälle? Ich glaube ebensowenig an Zufälle wie ich an die Vorsehung glaube oder gar an die Vorherbestimmtheit der Dinge. Nichts geschieht zufällig, und genausowenig scheint etwas vorherbestimmt zu sein. Ein unsichtbares, feinmaschiges Netz aus hauchdünnen Fäden ist es, in welchem sich alles miteinander verwoben findet, in Zeit und Raum – alles mit allem, jeder mit jedem und alles mit jedem. Irgendwo zieht jemand an einem der hauchdünnen Fäden, während jemand anderer an einem anderen zieht. Schon passiert etwas Unvorhergesehenes, ja Unvorhersehbares, jedoch ganz und gar nicht zufällig. Sehen Sie, an einem Ende der Welt erkrankt ein berühmter Sänger an Mumps, nur weil ein Kinderarzt viele Jahre zuvor in einem Impfpaß in der falschen Spalte eine Eintragung gemacht hat; wenig später rutscht – an einem ganz anderen Ende der Welt – ein Pianist in seiner Villa auf einer hölzernen Wendeltreppe aus, weil man es verabsäumt hat, der neuen Zugehfrau das Bohnern der Treppe zu untersagen. Wäre jemand (zum Beispiel der Pianist, doch es hätte auch seine Frau sein können) auf den Gedanken gekommen, die Zugehfrau auf die Gefährlichkeit ihres Tuns aufmerksam zu machen, und hätte jemand (die Sprechstundenhilfe jenes Kinderarztes, zum Beispiel, denn das wäre letztlich ihre Pflicht gewesen) den Irrtum im Impfpaß bemerkt – ich hätte Aurelia vielleicht niemals wiedergesehen.  
So jedoch ging ich am späteren Vormittag eines launischen Apriltages eiligen Schrittes durch den New Yorker Central Park. Ich war auf dem Weg zu meiner ersten Probe von Schuberts „Schöner Müllerin“ in der Carnegie Hall. (Nein, ich bin nicht der berühmte Liedsänger, der für seinen nicht weniger berühmten, an Mumps erkrankten Kollegen eingesprungen ist, ich bin der namenlose Pianist, der sein erstes Auftreten in der Carnegie Hall der übereifrigen Zugehfrau eines be rühmten Kollegen zu verdanken hat, und jemandem, weiß der Himmel wem, der ihn empfohlen hat, weiß der Himmel, warum.) Mein Name ist übrigens Herbert. (Mein Nachname tut nichts zur Sache, Sie kennen ihn gewiß nicht, und ich weiß noch nicht, ob er es wert ist, sich ihn zu merken. Es handelt sich um einen sehr einfachen Namen, soviel kann ich Ihnen sagen.) Ich blickte auf die Uhr und verlangsamte mein Tempo; ich war viel zu früh dran, wie immer, weil ich nichts mehr haßte, als zu spät zu kommen; ich ließ mich auf die nächste Parkbank fallen, breitete beide Arme über die Rückenlehne aus, schlug die Beine übereinander, schloß die Augen, hielt meine Nase der grellen Aprilsonne entgegen und sog tief und ausgiebig die noch kühle Vormittagsluft ein. Da tauchte sie auf, ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen, und doch bestand kein Zweifel, daß sie es war. Große, dunkelbraune Augen in einem blassen runden Gesicht voller Sommersprossen; halblange, dunkelbraune Haare, schnurgerade, mit einer rot-weiß getupften Schleife aus dem Gesicht gehalten, die wie immer schief saß und jeden Augenblick herunterzurutschen drohte. Ich öffnete die Augen und sah mich um; ein riesiger Buchsbaumbusch stand in der Nähe der Bank, auf welcher ich mich niedergelassen hatte; er schien der einzige weit und breit zu sein, vielleicht war er sogar der einzige seiner Art im ganzen Central Park; kein Wunder, daß Aurelia aufgetaucht war; tauchte sie doch immer und überall auf, wo der Geruch von Buchsbaum in der Luft lag.
Gerüche sind ebenso heimtückisch wie unerbittlich. Gerüche wird man niemals los, nicht einmal wirksam schützen kann man sich gegen ihre hinterhältigen Angriffe; Augen kann man verschließen, vor irgend etwas, das man nicht sehen will (vorausgesetzt, man schafft es rechtzeitig), doch die Nase? Dieser Buchsbaum jedenfalls, ohne daß ich ihn dazu aufgefordert hätte, und auch ohne daß ich ihn daran hätte hindern können, streckte seine Äste direkt in meine Nase, drang in mich ein und kitzelte ebenso sanft wie unerbittlich das Mädchen wach, das dort in seinem Dornröschenschlaf schlummerte. Dornröschen, ja; allerdings nahm das berühmte Märchen in meinem Fall einen etwas anderen Verlauf. Wohl gab es eine schallende Ohr feige, doch es war nicht der Küchenjunge, der sie bekam, sondern der Prinz, wenn Sie so wollen, und es war nicht der Koch, der sie ihm verpaßte – es war Dornröschen höchstpersönlich. Die Prinzessin wurde auch nicht durch plötzliches Einschlafen an der Verabreichung der Ohrfeige gehindert, nein, das wurde sie keineswegs (wenn ich Buchsbaum rieche, spüre ich diese Ohrfeige immer noch sehr schmerzhaft auf meiner linken Wange, und all das ist immerhin beinahe fünfzehn Jahre her). Es war keine undurchdringliche Dornenhecke um die Prinzessin gewachsen, sondern eine duftende Buchsbaum hecke; und, soviel ich wußte, war nicht vorgesehen, daß der Prinz das Dornröschen jemals küssen würde, genauer gesagt: wieder küssen würde; denn es gab keine böse Fee, deren ungerechter Zauber das Drama ausgelöst hätte (glauben Sie mir, ich habe die Ohrfeige damals wirklich verdient), und erst recht keine gute Fee, die das Drama zu einem glücklichen Ende hätte bringen können. Und dann war da noch ein kleines Problem. Zugegeben, die Märchenbuch-Illustratoren waren sich noch nie recht einig gewesen, über die Haar- und die Augenfarbe des Prinzen. Doch eines läßt sich mit Gewißheit sagen: die Haare des Prinzen waren nicht kraus und rotblond, seine Augen nicht rund und braun, er war nicht klein von Wuchs; er hatte keine Hängeschultern und wohl kaum die Figur eines Mannes, den die Mutter von Kindesbeinen an vom Turnunterricht hatte befreien lassen, damit seine wertvollen Pianistenhände (es war von Anfang an klar, daß es Pianistenhände sein mußten, obwohl, von Anfang an, für Pianistenhände viel zu klein) keinen Schaden nahmen.
Seit beinahe fünfzehn Jahren schon machte ich nun einen weiten Bogen um Orte, die im Verdacht standen, nach Buchsbaum zu riechen (nach Aurelia also), zum Beispiel Hecken aller Art, selbst wenn ich aus der Entfernung nie mit Sicherheit erkennen konnte, ob es sich nicht doch um eine sehr dichte, sehr gepflegte und sehr kleinblättrige Ligusterhecke handelte. Ich mied historische Parkanlagen wie der Teufel das Weihwasser, und vor allem mied ich selbstverständlich Friedhöfe; um Friedhöfe machte ich einen besonders großen Bogen. Friedhöfe rochen immer nach Aurelia.
Ich sah auf die Uhr und sprang auf. Nun würde ich womöglich noch zu spät kommen, zu meiner „Schönen Müllerin“. Ich hielt eine Sekunde inne: jetzt, wo Aurelia schon einmal hier war, konnte ich sie ruhig auch mitnehmen. Hastig riß ich einen Zweig von jenem Buchsbaumbusch (dem einzigen vielleicht, im ganzen Central Park) und lief los.
Ich schaffte es gerade noch. Kurz vor elf Uhr schlüpfte ich durch den Künstlereingang an der Rückseite der Carnegie Hall, Ecke 7th Avenue, fünfundfünfzigste Straße, schwitzend, keuchend, außer Atem; fast wäre ich über einen Stapel Pro grammhefte gestolpert. Ganz automatisch nahm ich eines davon an mich und begann darin zu blättern. Mein erster unverzeihlicher Fehler. Ein dunkelblau Uniformierter riß mir das Heft aus der Hand, fauchte mich an. Diebstahl sei das, jawohl Diebstahl. Name! Ausweis! Und da beging ich schon meinen zweiten Fehler, nicht weniger unverzeihlich als der erste. Einen Namen hatte ich zwar, auch einen Ausweis; der Fehler, der mir unverzeihlicherweise unterlief, war der, nicht auf der Liste zu stehen. Eine schwarzbebrillt Blauuniformierte, welche hinter einer gläsernen Wand saß und jeden Herein kommenden gnadenlos kontrollierte, sah mich scharf und durchdringend an und schüttelte den Kopf; ich wischte mit einem Taschentuch über die unschönen Schweißtröpfchen, die sich ganz gewiß über meiner Oberlippe gebildet hatten (das taten sie immer), ersetzte sie durch mein schönstes Lächeln und versuchte, der Uniformierten zu erklären, daß ich der Pianist war, der am nächsten Abend einen Sänger bei einem Liederabend begleiten sollte; mein Englisch begann unter meiner Nervosität zu leiden; ich litt mit ihm; o Gott, wie hieß doch gleich „im letzten Moment für jemanden einspringen“? Ich spürte, wie klamme Verzweiflung in mir hochkroch, sah mich, (aussichtslos) hilfesuchend um; die Eingangstür ging auf; erleichtert erkannte ich den Sänger. Wir waren einander nur einmal flüchtig begegnet, hatten kaum mehr als ein paar unverbindliche Worte gewechselt, doch er schien sich meiner durchaus zu erinnern.  
„Hallo, schön Sie zu sehen, wie geht‘s?“
Es strahlte eine ruhige Bestimmtheit aus, die mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen war. Nicht einmal die schwarzbebrillt Blauuniformierte hinter ihrer gläsernen Wand konnte sich seiner Ausstrahlung entziehen. Sein Name fand sich ebensowenig auf der ominösen Liste wie meiner, und sein Englisch war vielleicht noch schlechter als meines. Doch das, was weder meine mühsamen Erklärungen noch mein strahlendstes Lächeln bewirkt hatten, erreichte er mit dem kaum merklichen Anflug eines Lächelns, einer leicht gehobenen linken Augenbraue und mit Hilfe weniger Worte, welche er mit seiner berühmten schmeichelrauhen Baritonstimme von sich gab, so sanft, daß jeder Widerstand zwecklos schien. Ich be haupte nicht, daß die Uniformierte am Ende lächelte, nein lächeln wäre zu viel gesagt, doch immerhin machte sie ein Gesicht, das erahnen ließ, wie ihr Lächeln unter Umständen aussehen könnte, als sie dem Sänger zwei Programmhefte überreichte und mit einer beinahe einladenden Geste in Richtung des Aufzugs wies, der uns wohl zum Konzertsaal bringen würde.
„Kommen Sie“, sagte der Sänger und reichte mir ein Pro-grammheft und grinste, was keinen Zweifel daran ließ, daß er sich seiner Wirkung wohl bewußt war; seiner Wirkung auf Menschen im allgemeinen und auf Frauen im besonderen.
Er mochte ein paar Jahre älter sein als ich und sah dafür ein paar Jahre jünger aus; er war nicht besonders groß, ziemlich schlank, hatte einen schmalen Nacken, dunkelblonde, kurz geschnittene Haare; seine Augen lagen tief; seine Züge waren markant, beinahe hart, und er gehörte offensichtlich zu jenen Männern, die grundsätzlich aussehen, als hätten sie einen Zweitagesbart, obwohl sie sich eben erst frisch rasiert haben, was ihre maskuline Ausstrahlung beneidenswert unterstreicht.
Kennen Sie den alten Schlager „Man müßte Klavier spielen können“? Den kann nur jemand geschrieben haben, der keine Ahnung vom wirklichen Leben hatte; oder ein Klavierspieler, der seinem Wunschdenken Ausdruck verlieh; Klavierspielen nützt dem Klavierspieler wenig, was seinen Erfolg bei Frauen betrifft. (Wenn ich an Aurelia denke, so war das Klavierspielen sogar ausgesprochen schädlich, meines nicht weniger als ihres.) Und dann noch Begleiter. Ein Solopianist, ja, vielleicht; vielleicht wirkt das. Doch Begleiter? Eine Nebenrolle per definitionem. Welche Frau träumt schon von einem Mann, der per definitionem eine Nebenrolle spielt? Nein, Klavierspielen nützt gar nichts, glauben Sie mir. Singen müßte man können. Singen scheint auf Frauen eine geradezu unwiderstehliche Wirkung zu haben; sie werden augenblicklich elektrisiert. Erotisiert. Ja, erotisiert.
„Ich bin froh, daß Sie einspringen konnten.“
Das klang erfreulich erfreut.
„Zum Glück fand sich in meiner kleinen Dachwohnung kein Platz für eine Wendeltreppe, die ich hätte hinunterfallen können.“
Der Sänger lachte. „Nein, ehrlich, ich hatte schon längst auf eine Gelegenheit gewartet, mit Ihnen zu musizieren.“
„Habe ich mein erstes Auftreten in dieser heiligen Halle etwa Ihnen zu verdanken?“
„Ja, natürlich.“
„Sie kennen mich doch gar nicht, oder?“
„Doch, ich beobachte Sie schon eine ganze Weile. Und ich kenne die CD, die Sie mit diesem jungen Tenor aufgenommen haben. Ihre Art zu begleiten ist von einer erfrischend unaufdringlichen Selbständigkeit, finde ich. Unterwürfige Begleiter kann ich nämlich nicht ausstehen, Sie wissen schon, was ich meine – die Sorte, die dem Sänger in allem und jedem nachgibt und recht gibt. Mühsam. Man verliert den Boden unter den Füßen. Waten im Moor.“ Er machte eine kleine Pause. „Und? Wie ist das mit Ihnen? Welche Art von Unarten schätzen Sie an Sängern?“ Sicherheitshalber gab ich keine Antwort, und er bestand sicherheitshalber nicht auf einer.
Wir betraten die Bühne; ich hatte sie bis dahin nur aus der Zuhörerperspektive gekannt; rund war die Carnegie Hall, von hier aus betrachtet, erstaunlich rund und erstaunlich sparsam dekoriert, im Vergleich zu den Konzertsälen in dem Land, aus dem ich kam, geradezu nüchtern; sekundenlang stand ich so da und wartete auf das Gefühl; ich wartete darauf, daß sich dieses Gefühl in mir einstellen würde; das Gefühl, das zu fühlen ich mir vorgestellt (vielleicht auch vorgenommen) hatte, ohne es je gefühlt zu haben; trotzdem wußte ich in diesem Augenblick, daß ich es nicht fühlte, das Gefühl: ich fühlte mich wie immer. Hier zu stehen war weder so erhebend noch so einschüchternd, wie mir das auf der anderen Seite vorgeschwebt war, auf der anderen Seite der Bühne und auf der anderen Seite des Atlantik. Es war eine Bühne wie jede andere, was mich ebenso mit Enttäuschung erfüllte wie es mich erleichterte. Ich klappte den Flügel auf, legte meine Noten zurecht und den Buchsbaumzweig daneben, welchen ich, wie ich erst jetzt bemerkte, noch immer krampfhaft in meiner linken Hand festgehalten hatte.   
„Fangen wir mit den letzten beiden Liedern an“, schlug ich vor.
Der Sänger zog die linke Augenbraue hoch und sah mich prüfend an.
„Ich nehme an, Sie wollen wissen, wo ich hin will“, sagte er endlich.
„Ja“, sagte ich „ich will wissen, wo wir hin wollen.“
„Und?“ fragte er, nachdem der letzte Ton des letzten Liedes verklungen war, „wissen wir‘s jetzt?“
Ich nickte, und wir versenkten uns in das erste der zwanzig Lieder des Schubertschen Zyklus, das Liebesdrama eines jungen Müllersburschen, welches ein so furchtbar tragisches Ende nimmt.


***

Als ich Aurelia zum ersten Mal wahrnahm, hatte ich so ein Gefühl, als ob sie schon immer dort gestanden hätte, von Anbeginn der Zeiten, hinter der Glastür einer Greißlerei, an der jeder Begräbniszug vorbeizog, vorbeiziehen mußte, auf dem Weg von der Kirche zum Friedhof, in einem Städtchen, das gerade groß genug war, daß nicht jeder jeden kannte und doch nicht groß genug, als daß man hätte sicher sein können, nicht erkannt zu werden. Der Herr Pfarrer schritt hinter dem schwarzen, mit Kränzen beladenen Leichenwagen und duldete niemals und unter keinen Umständen, daß seine Ministranten links oder rechts schauten, während sie, unnatürlich langsam und unverständlich murmelnd, in lateinische Gebete versunken (vorgeblich versunken, denn in Wirklichkeit versenkten sie sich in weiß Gott was, worin halbwüchsige Knaben sich eben so versenken), neben und hinter ihm her wallten, wie das Jüngste Gericht, in weißen Gewändern, mit dunkelvioletten Krägen; der Herr Pfarrer hatte einen untrüglichen Instinkt dafür, ob jemand nicht hinter ihm herbetete, wie es sich gehörte, ob jemand gar links oder rechts schaute, wiewohl er doch unmöglich sehen oder hören konnte, was hinter ihm vorging; ich beobachtete, wie sein ewig geröteter, cholerischer Kopf noch röter anlief, vor gewaltsam unterdrücktem Zorn, wie sein Hals, aus dem bläuliche Adern hervorquollen, nervös vorwärtsseitwärts zuckte, sobald er einen von uns bei einer Unaufmerksamkeit ertappte. Ich riskierte jedesmal eine Schimpftirade mit abschließender Ohrfeige, nachher in der Sakristei, jedesmal, wenn mein Kopf sich nach rechts wandte, sobald wir an der Greißlerei vorbeikamen. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, ich glaube, ich dachte gar nichts; ich trottete vor mich hin, unnatürlich langsam und vorgeblich ins Gebet versunken, den Blick auf das Granitkopfsteinpflaster gesenkt, das unter meinen Füßen vor mir her zum Friedhof tanzte, als plötzlich etwas in mir (oder jemand, Luzifer, möglicherweise, der sich meiner Seele bemächtigte, weil die Seele dessen, der in dem Sarg vor mir ruhte, ihm für immer verloren schien) meine Augen lenkte, meinen Kopf packte, nach rechts drehte, meinen Hals nach hinten verrenkte, bis der Begräbniszug sich um die nächste Biegung geschleppt hatte und die Glastür aus meinem Gesichtsfeld verschwunden war. Ich riskierte jedesmal eine Ohrfeige und bekam sie auch oft genug; ich riskierte sie und bekam sie für einen Blick verabreicht, für einen Blick auf ein kleines Mädchen, das nicht älter als fünf oder sechs sein konnte, ein kleines Mädchen, welches mit sorgfältig gefalteten, nach oben weisenden Händen hinter einer Glastür stand, in einem dunkelblauen Faltenrock, den sie fast bis zum Kinn gezogen hatte, weil er ihr viel zu lang war, auf dem Kopf eine rot-weiß getupfte Schleife, die jeden Augenblick von ihren dunklen halblangen Haaren zu rutschen drohte, für einen Blick auf zwei dunkle Augen in einem runden, blassen Gesicht voller Sommersprossen; Luzifer hockte in mir und zwang meinen Blick auf einen Engel, der durch einen himmlischen Irrtum mit schnurgeraden dunklen Haaren und dunklen Augen auf die Welt gekommen war, anstatt, wie es sich für einen Engel geziemt hätte, blauäugig, mit blonden Locken. Ich war dreizehn Jahre alt und wollte dieses Mädchen haben, von dem Augenblick, als es zum ersten Mal die Schwelle meiner Wahrnehmung passierte, ich wollte es für mich haben, ganz für mich allein. Es schien ja auch niemandem zu gehören, wie es so dastand, hinter Glas, mit Holz umrahmt. Sie war nicht wirklich ein Engel, wie sich später herausstellte, bei Gott, nein, das war Aurelia nicht; doch sie hatte etwas von einem; sie war ein leuchtendes Wesen, ein Strahlen ging von ihr aus, ein waches und aufmerksames Strahlen, und sie besaß – dessen bin ich sicher – ein Paar unsichtbarer Flügel, die sie, wo immer sie sich befand, anlegen konnte, um augenblicklich und spurlos zu verschwinden. Allein deshalb schon mußten all meine Versuche, das Mädchen zu besitzen, jämmerlich fehlschlagen; sie konnten nur dazu führen, daß Aurelia von mir Besitz ergriff, bis ich am Ende von ihr besessen war, bis sie mich besaß; und das war wohl das Schlimmste, was ich ihr antun konnte: mich besitzen müssen. Mich zu besitzen war zweifellos das letzte, was sie wollte. Sie wollte ebensowenig jemanden besitzen, wie sie es verabscheute, von jemandem besessen zu werden.
Ich fing an, mich in der allwöchentlichen Ministrantenstunde nur noch für Begräbnisse einteilen zu lassen, obwohl Hochzeiten (das war allgemein bekannt) bei weitem einträglicher waren; denn während uns die glücklichen Brautleute stets mit Münzen und Scheinen belohnten, auf einem goldenen Teller, den wir ihnen beim Auszug aus der Kirche unter die Nase hielten (unauffällig), speisten uns die trauernden Hinterbliebenen nach Begräbnissen in Naturalien ab, was soviel hieß wie: wir durften am Leichenschmaus teilnehmen – hierorts, so verlangte es die Tradition, ein Teller fettäugiger Suppe mit schlüpfrigen, zu Tode gekochten Nudeln und ein großes Stück ebenso zu Tode gekochtes, fettes Rindfleisch; und wäre es nicht bereits zu Tode gekocht, so wäre es garantiert erstickt, unter einer dicken Schicht pappiger Semmelkrensoße, deren Farbe mich nicht weniger daran erinnerte, um welchen Schmaus es sich hierbei handelte.
Nicht nur riskierte ich Ohrfeigen und würgte mit Todesverachtung an Rindfleisch mit leichenblassem Semmelkren, ich setzte mich bei Begräbnissen naturgemäß überdies den Unbillen der Witterung aus, mit all ihren unangenehmen begleitenden Erscheinungen. Was eine halbe Stunde sengender Sonne an einem Hochsommertag in einem rotblonden, sommersprossigen Gesicht anrichtet, kann man sich leicht ausmalen; und das allwinterliche Entsetzen meiner Mutter über meine blaugefrorenen, halbvereisten, vom Turnunterricht befreiten Pianistenhände läßt sich ohnehin kaum beschreiben.
All das klingt, wenn ich heute daran denke, ein bißchen lächerlich. Ein paar von meinen Ministranten-Kollegen fanden es schon damals lächerlich, der eine oder andere merkte etwas, ohne genau zu wissen, was er eigentlich merkte, und man hänselte mich, einfach so auf Verdacht. Doch ob es nun dieses war, womit man mich aufzog, oder etwas anderes … meine unmögliche Figur oder mein chronisches, langweiliges Klavierüben oder meine Mutter, die für alle unübersehbar eine Perücke trug, die mich, da ihr Beruf ihr größtmögliche Bewegungsfreiheit und flexible Zeiteinteilung einräumte (sie war Witwe) immer und überall besorgt begluckte – was machte das schon für einen Unterschied? Vielleicht verstehen Sie mich besser, wenn ich Ihnen sage, daß Aurelia eines Tages lächelte. Wieder einmal trottete ich (vorgeblich gottergeben) vorüber, an der Glastür, hinter welcher sie stand, und starrte sie an; das heißt, meinen Gesichtsausdruck konnte ich natürlich nicht sehen, doch innen fühlte sich das, was ich tat, wie Starren an, und obwohl ich also ganz gewiß nicht lächelte, sondern starrte, sah mich das Mädchen mit lächelnden Augen an. Von diesem Tag an lächelte sie jedesmal; ja, ihr Lächeln schien fast so etwas wie auf mich zu warten; zumindest stellte ich mir vor, daß ich es war, den sie anlächelte, und daß ich es war, auf den ihr Lächeln wartete.
Ich erzähle jetzt von ihr, als hätte ich damals schon ihren Vornamen gekannt; nein ich wußte nicht einmal, wie sie hieß; ich hatte noch nicht einmal das Bedürfnis, einen Namen zu denken, wenn ich an sie dachte, denn ich befand mich in diesem seligen Vor-Wort-Zustand, in welchem all das noch nicht in Worte gezwängt war, was ich später (allem zum Trotz, was noch passieren sollte) Liebe nennen würde, denn wie hätte ich es sonst nennen sollen? Frei, unbestimmt und vieldeutig durchdrang es mich, erfüllte mich mit unzähligen winzigen Teilchen von nichts und irgend etwas, schwebend, schwerelos, mühelos, ruhelos; es hatte noch nicht einmal zu fließen begonnen, in mir, und ich war noch weit entfernt von dem Zustand, wo die Teilchen, die alles bedeuten, sich sammelten, sich suchend zu Worten formten, die längst nicht mehr alles bedeuten konnten; wo ein Wort sich tastend an das nächste fügte, während es sich immer noch fließend bewegte, obwohl ich schon spürte, wie es anfing zäher zu fließen, immer zäher, und immer weniger flüssig, bis es erstarrte, in jenem bekannten Nach-Wort-Zustand, in welchem alles, was zuvor wunderbar wortlos in mir dahingeschwebt war, feinsäuberlich in einem engen Korsett von überaus passenden Worten steckte.
Ich nahm Aurelia, deren Namen ich nicht kannte, auf dem Weg zum Friedhof wortlos aus ihrem Holzrahmen hinter der Glastür, setzte sie mir in den Kopf und schloß sie ein; zwang sie, fortan dort zu sitzen und mir geduldig lächelnd zuzuhören, während ich stundenlang Tonleitern und Akkordzerlegungen hinauf und hinunter übte, während ich, langsam erst, dann immer schneller, Czernys Schule der Geläufigkeit in meine Fingern bekam, während ich mich an Johann Sebastian Bachs Inventionen versuchte, an seinem Wohltemperierten Klavier (Band I), an klassischen Sonaten von Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven, an Franz Schuberts Impromptus, an Felix Mendelssohn Bartholdys Liedern ohne Worte.

 

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